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Die Traumata der Shoah und der Nakba
Die Völkerrechtlerin Muriel Asseburg analysiert und diskutiert die Hintergründe des Gaza-Krieges
Wer hat angefangen? Im mittlerweile seit über einem Dreivierteljahrhundert währenden blutigen Konflikt eine scheinbar müßige Frage. Und doch muss sie gestellt werden. Immer wieder und gerade heute. Denn es geht um viel mehr als den Gazastreifen.
»Der Weg aus der Gewalt wird dadurch erschwert, dass sowohl die israelische als auch die palästinensische Gesellschaft schwer traumatisiert sind. Die kollektiven Traumata der Shoa und der Nakba verstärken die aktuellen Leiderfahrungen und lassen kaum Raum für Empathie mit der anderen Seite«, konstatiert Muriel Asseburg in ihrem Buch über den Krieg in Gaza. Die 1968 in Stuttgart geborene Politikwissenschaftlerin und Nahost-Expertin untersucht darin den historischen Hintergrund, die Eskalation und die möglichen Folgen für die Zukunft.
Vieles ist durch die ausführliche mediale Berichterstattung bekannt. Was bislang fehlte, ist jedoch eine die Zusammenhänge berücksichtigende Einordnung, eine kritische Darstellung der Faktenlage, eine von wissenschaftlicher Urteilskraft getragene, (naturgemäß) vorläufige Würdigung. Dies liefert die wissenschaftliche Mitarbeiterin der Stiftung Wissenschaft und Politik.
Hinsichtlich des heimtückischen Überfalls der Hamas auf Israel liegen die grausigen Tatsachen auf der Hand: Mehr als 1000 Menschen wurden ermordet, 250 Geiseln verschleppt. Israel riegelte den Gazastreifen vollständig ab und startete eine Großoffensive gegen die Hamas.
Das Massaker vom 7. Oktober 2023 an Bewohnern mehrerer Kibbuzim und friedvollen Besuchern des Nova-Musikfestivals muss als völker- und menschenrechtswidriges Verbrechen be- und verurteilt werden. Offengelegt hat jener verhängnisvolle Tag aber auch ein eklatantes Versagen der israelischen Geheimdienste und der Armee, die danach Revanche zu nehmen versuchten und dabei eine ganze Bevölkerung mit Krieg überzogen. Das Wort von einer »Verhältnismäßigkeit« der Mittel erscheint in diesem Zusammenhang dennoch fragwürdig, es sei denn, man hielte das Ziel Israels für nicht gerechtfertigt, »ein für alle Mal« die Bedrohung seines Staates und seiner Bürger durch die Hamas auszuschließen.
Muriel Asseburg versucht, die Auswirkungen des Krieges auf die Bevölkerung in Gaza anhand des Kampf- und Blockadegeschehens auch kalendarisch nachzuvollziehen. Sie legt zwar kein Kriegstagebuch vor, aber in gewisser Weise eine Art Nachschlagewerk. Die Autorin stützt sich nicht nur auf israelische, sondern vielmehr auf Quellen seitens der Opfer. Eine »objektive« Beurteilung der Vorgänge vor Ort und in der Ferne dürfte jedem und jeder schwerfallen, wird vielleicht nie möglich sein. In diesem Konflikt, in diesem Krieg ist Parteinahme wohl verständlich. Ein Zahlenvergleich der Opfer des Überfalls der Hamas mit jenen des Krieges Israels in Gaza erhitzt die Gemüter. Große Teile der Weltöffentlichkeit sind empört. Insofern scheint die Hamas, wie Muriel Asseburg bemerkt, zweifach »Erfolg« gehabt zu haben: Erstens ist die Palästinenserfrage wieder auf die internationale Tagesordnung gerückt, und zwar mit höchster Dringlichkeit, und zweitens hat der Krieg zu einem dramatischen Prestigeverlust Israels geführt, dessen Folgen noch gar nicht abzusehen sind.
Die Autorin, die in München auch Völkerrecht studiert hat, diskutiert sachkundig vor allem völkerstrafrechtliche Fragen. Höchste israelische Politprominenz soll auf die Anklagebank in Den Haag, die vom Internationalen Strafgerichtshof zur Anklage vorgesehenen Hamasführer sind inzwischen tot. Israel vollstreckt selbst gefällte Todesurteile durch gezielte Militärschläge, wobei sogenannte Kollateralschäden nicht ausgeschlossen sind.
Muriel Asseburg analysiert in diesem Zusammenhang auch die Rolle Irans (geschwächt durch die Ausschaltung seiner Luftverteidigung und den Ausfall Syriens in der »Achse des Widerstands«) sowie die der Golfstaaten, angeführt von Saudi-Arabien. Sie referiert Stimmungsbilder der Bevölkerungen dort, in Israel und in aller Welt und informiert über die bisher vergeblichen Friedensbemühungen der Uno sowie jeweils befreundeter und »neutraler« Staaten. Sie zeigt, wie der Krieg immer weitere Kreise zog und zieht: vom Westjordanland bis nach Syrien und Irak über den Libanon bis zu den Huthi-Milizen im Jemen.
Es ist kein Buch, das Mut macht. Es ist mit viel Empathie verfasst, aber es bietet auch keine Lösungen an. Muriel Asseburg unterbreitet ihre Ansicht, was man politisch nicht machen darf, warnt vor weiterer Eskalation durch unbedachte Entscheidungen und Handlungen. Ob diese Mahnung angesichts der von ihr selbst genannten Traumata in den betroffenen Gesellschaften fruchtet?
Muriel Asseburg: Der 7. Oktober und der Krieg in Gaza. Hintergrund, Eskalation, Folgen. C. H. Beck, 286 S., geb., 20 €.
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