Arbeit: Das halbe Leben

Der Begriff der Arbeit ist ein blinder Fleck in der Kritischen Theorie. Ein Sammelband rekonstruiert seine Bedeutung und untersucht seine Potenziale

  • Finn Gölitzer
  • Lesedauer: 6 Min.
Sinnbild des Nichttätigseins: Das Liegen auf dem Wasser führte Theodor W. Adorno gegen den Arbeitszwang an.
Sinnbild des Nichttätigseins: Das Liegen auf dem Wasser führte Theodor W. Adorno gegen den Arbeitszwang an.

Auf dem Wasser liegen und friedlich in den Himmel schauen» – so umschrieb Theodor W. Adorno das Nichtstun als Motiv einer unerfüllten Utopie in den «Minima Moralia». Das Utopische liege außerhalb, nicht innerhalb der Arbeit. Es ließen sich unzählige weitere Zitate von Adorno auftreiben, in denen diese arbeitskritische Haltung hervorscheint. Umso verwunderlicher ist es, dass nach wie vor umstritten ist, welche Rolle der Arbeitsbegriff in dessen Werk überhaupt spielt. Und das gilt für die Kritische Theorie insgesamt.

Dem Arbeitsbegriff in der Kritischen Theorie widmet sich deshalb nun der von Philipp Lorig, Virginia Kimey Pflücke und Martin Seeliger im Mandelbaum-Verlag herausgegebene Sammelband «Arbeit in der Kritischen Theorie. Zur Rekonstruktion eines Begriffs» – wobei der Titel irreführend ist, da hier weitaus mehr als eine bloße Begriffsrekonstruktion vorgelegt wird. Neben dem Begriff der Arbeit in der Kritischen Theorie erfährt man auch einiges zur Arbeitsweise der Kritischen Theorie selbst. Dabei wird nicht nur auf Autoren wie Adorno oder Max Horkheimer eingegangen, sondern auch auf «Randfiguren» der ersten Generation wie Siegfried Kracauer oder Franz Neumann, sowie auf oftmals vergessene Autor*innen späterer Generationen, wie etwa Regina Becker-Schmidt, Alfred Schmidt oder Gerhard Brandt.

Gesellschaftskritisches Fundament

Mit dem Sammelband verweisen die Herausgeber*innen auf eine Forschungslücke. In der Kritischen Theorie lässt sich eine auffallende Abwesenheit des Arbeitsbegriff beobachten: auffallend, weil der Arbeitsbegriff – vor allem in negativer Hinsicht – eine konstitutive Rolle für die Gesellschaftskritik der Frankfurter Schule zu spielen scheint; abwesend, weil er nur implizit enthalten ist. In der Einleitung konkretisieren die Herausgeber*innen diese Feststellung. So habe es in der frühen Kritischen Theorie keine dezidierte Auseinandersetzung mit Arbeit und Arbeitssoziologie gegeben. Jedoch wird von den Herausgeber*innen auf drei Grundmotive verwiesen, in denen der Arbeitsbegriff immer wieder zum Tragen kommt: Naturbeherrschung, Entfremdung und Verdinglichung. Diese Kernbegriffe hätten aber – so die vorangestellte Diagnose des Buches – bei späteren Vertretern der Kritischen Theorie an Bedeutung verloren. Damit seien auch die Potenziale eines kritischen Arbeitsbegriffes verloren gegangen. Eine Rekonstruktion – so hoffen es die Herausgeber*innen – könne das «gesellschaftskritische Fundament» der Theorietradition wiederbeleben und schlussendlich einer «aktualisierten Kritischen Theorie der Arbeit» den Weg ebnen.

Bereits die ersten beiden Beiträge des Sammelbandes dämpfen diese hohe Erwartung ab, indem sie deutlich machen, dass es mit einer bloßen Begriffsrekonstruktion nicht getan ist. Hans-Ernst Schiller argumentiert beispielsweise, dass «Adornos Utopie» zwar die Vorstellung einer radikalen Arbeitszeitverkürzung enthält, sein Arbeitsbegriff nichtsdestotrotz analytisch unscharf bleibt. Ungleich härter fällt die Kritik von Diethard Behrens aus, der den «unpräzisen Arbeitsbegriff» von Adorno und Horkheimer auf eine «selektive Rezeption» der Marx’schen Ökonomiekritik zurückführt.

Kapitalistische Spezifik?

Damit entpuppt sich die Frage nach dem Arbeitsbegriff als Frage nach dem Verhältnis von Kritischer Theorie und Marx’ Kritik der Politischen Ökonomie. Mit dem im «Kapital» dargestellten «Doppelcharakter» erhob Marx den Anspruch, die spezifische Form der Arbeit im Kapitalismus entdeckt zu haben. Gerade diese Entdeckung ist, folgt man Behrens, von Adorno und Horkheimer aber nur ungenügend beachtet worden. Bei Horkheimer sei diese Leerstelle auf die Marx-Interpretation von Friedrich Pollock, dem damaligen Chefökonomen im Institut für Sozialforschung (IfS), zurückzuführen. Dessen «historische Lesart» – nach der die Anfangskategorien im «Kapital» als verschiedene geschichtliche Entwicklungsstufen verstanden werden – habe Horkheimer maßgeblich beeinflusst. Unverstanden blieb dadurch die für die kapitalistische Gesellschaft historisch-spezifische Bedeutung der Marx’schen Kategorien. Entsprechend stellt Behrens nüchtern fest: «Von einem Begreifen der Wertformanalyse ist man ziemlich weit entfernt.»

Die Frage nach dem Arbeitsbegriff entpuppt sich als Frage nach dem Verhältnis zu Marx’ Kritik der Politischen Ökonomie.

In Bezug auf die «Dialektik der Aufklärung» kommt Marcel Stoetzler in seinem Beitrag zu einem ähnlichen Ergebnis. Arbeit werde hier oftmals in einem anthropologischen Sinne als bloße Naturbearbeitung verstanden. Entsprechend zeige sich das in Adornos und Horkheimers Konzeption der Dialektik: Die Menschheit habe sich durch die Beherrschung der Natur mittels Arbeit von den unmittelbaren Naturzwängen befreit, sich aber wiederum der Arbeit unterworfen und sei dadurch in den Bannkreis der instrumentellen Vernunft geraten. Befreiung und Beherrschung durch Arbeit erscheint hier als zivilisationsübergreifender Prozess.

Verdinglichung der Arbeit

Gleichzeitig lassen sich aber auch konträre Aussagen finden, in denen Adorno und Horkheimer – die Intention von Marx’ Kritik der Politischen Ökonomie aufgreifend – Herrschaft durch Arbeit als Spezifik der kapitalistischen Moderne identifizieren. Diese Spannung zwischen historisch-spezifischer und transhistorischer Deutung zeige sich, so Behrens, vor allem im Begriff des «Tauschprinzips», mit dem Adorno zwar auf Marx rekurriere, gleichzeitig aber Gefahr laufe, dessen Kritik auf die Zirkulationssphäre zu beschränken und die Arbeit als überzeitliche Konstante zu hypostasieren.

Dass sich die Tendenz, Arbeit jenseits ihrer konkreten gesellschaftlichen Gestalt zu fassen, auch bei anderen Autor*innen des westlichen Marxismus finden lässt, zeigt Claus Baumann in seinem Beitrag anhand von Georg Lukács und Hans Heinz Holz. Ob Arbeit nun, wie bei Holz, als Stoffwechselprozess verstanden werde oder, wie bei Lukács, als «Telosrealisation», also Selbstverwirklichung – in beiden Fällen bleibe die begriffliche Bestimmung ihrer gesellschaftlichen Dimension unzureichend.

Deutlich wird, dass es sich bei den theoretischen Widersprüchen des Arbeitsbegriffes nicht um ein genuines Problem der Kritischen Theorie, sondern des Marxismus insgesamt handelt. Vor diesem Hintergrund drängt sich die Frage auf, ob ein – für das Projekt einer «aktualisierten Kritischen Theorie der Arbeit» – wegweisender Arbeitsbegriff überhaupt ohne Weiteres rekonstruiert werden kann. Die in diesem Zusammenhang diskutierten Beiträge legen vielmehr nahe, dass es einer grundlegenden Kritik des Begriffs bedürfe.

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Im Sammelband finden sich jedoch auch optimistischere Stimmen, die eine andere Perspektive eröffnen. Insgesamt treten dadurch stark divergierende Einschätzungen zutage: Während Ulf Bohmann und Tanja Hoss das emanzipatorische Potenzial von Herbert Marcuses Arbeitsbegriffs hervorheben, kritisieren Jonas Balzer und Ansgar Martins dessen Tendenz zur unhistorischen «Arbeitsontologie». Die Unterschiedlichkeit der Positionen lässt sich einerseits als Ausdruck inhaltlicher Breite deuten. Gleichzeitig entsteht dadurch aber auch der Eindruck einer fragmentierten Diskussion.

Anschluss zur Arbeitssoziologie

Dafür bietet der Sammelband aber Einblicke in einige Diskussionsstränge, die in dem Dickicht der Sekundärliteratur zur Kritischen Theorie üblicherweise vernachlässigt werden. Beispielsweise präsentiert der Beitrag von Felix Gnisa die industriesoziologische Forschung am IfS in den 70er und 80er Jahren: Unter der Leitung des damaligen Institutsleiters Gerhard Brandt wurden zahlreiche empirische Forschungen angestoßen, bei denen man sich an dem Marx’schen Konzept der «reellen Subsumtion» und der Theorie von Alfred Sohn-Rethel orientierte. Nach der sozialphilosophischen Wende des Instituts unter Axel Honneth sind diese Forschungsprojekte weitgehend in Vergessenheit geraten, dabei enthalten sie wertvolle Einsichten in das Verhältnis von Kritischer Theorie und empirischer Forschung sowie Anknüpfungspunkte für gegenwärtige arbeitssoziologische Fragen. Es gehört zu den Stärken des Sammelbandes auch diesen Kapiteln der Kritischen Theorie Geltung verschafft zu haben.

Philipp Lorig, Virginia Kimey Pflücke und Martin Seeliger (Hg.): Arbeit in der Kritischen Theorie. Zur Rekonstruktion eines Begriffs. Mandelbaum 2024, 588 S., br., 37 €.

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