Myanmar: Wettlauf gegen die Zeit

Bettina Iseli (Welthungerhilfe) über die Lage nach dem Beben und die Folgen des Bürgerkriegs

  • Interview: Philipp Hedemann
  • Lesedauer: 6 Min.
Betreuung von Erdbebenopfern in einem Krankenhaus in Mandalay
Betreuung von Erdbebenopfern in einem Krankenhaus in Mandalay

Am Freitag erschütterte ein schweres Erdbeben Myanmar. Es gibt kaum Informationen aus dem international isolierten Land. Was wissen Sie über Todeszahlen und Schäden vor? Wie stark ist die Arbeit der Welthungerhilfe beeinträchtigt?

Es gibt kaum Strom, Straßen und Brücken sind zerstört, und auch der Flughafen ist nicht in Betrieb. In den großen Städten wie Mandalay, dem Epizentrum des Erdbebens, gibt es nur vier Stunden pro Tag Strom, auf dem Land zum Teil nur für eine Stunde oder gar nicht. Deshalb haben wir Schwierigkeiten, unsere Teams in den betroffenen Regionen telefonisch zu erreichen. Unser Büro in Mandalay wurde bei dem Beben stark beschädigt. Das Haus einer Mitarbeiterin stürzte ein. Aus Angst vor Nachbeben haben unsere Mitarbeitenden dort unter freiem Himmel geschlafen.

Laut der Militärregierung gibt es mittlerweile mehr als 2000 Tote. Glauben Sie, die Zahl stimmt?

Das ganze Ausmaß dieses schlimmen Bebens wird sich erst in den nächsten Tagen zeigen. Unser Team und Mitarbeitende von Partnerorganisationen berichten aus vielen Landesteilen von unzähligen zusammengefallenen Häusern, aufgerissenen Straßen und zerstörten Brücken. Niemand weiß, wie viele Menschen noch unter den Trümmern liegen. Die Leute versuchen verzweifelt und mit bloßen Händen, Verletzte zu bergen. Fast nirgendwo gibt es dafür schweres Gerät oder professionell ausgebildete Helfer. Es ist ein Wettlauf gegen die Zeit. Im ganzen Land ist es schwül-heiß. Länger als 72 Stunden kann man bei diesen Bedingungen ohne Wasser unter Trümmern kaum überleben. Die medizinische Versorgung war in vielen Regionen schon vor dem Beben katastrophal. Auch dass die ansonsten so isolierte Militärregierung um Hilfe aus dem Ausland gebeten hat, deutet darauf hin, dass Not und Zerstörungen immens sein müssen.

Interview

Bettina Iseli (47) ist als Vorstandsmitglied der Welthungerhilfe verantwortlich für die Programme. Die Schweizerin ist seit 20 Jahren in der Entwicklungszusammenarbeit tätig. Sie hat Internationale Beziehungen, humanitäre Hilfe und Leadership & Management in Genf, Bochum, Groningen und Zürich studiert. 

Wie hilft die Welthungerhilfe den Erdbebenopfern?

Es ist eine gute Nachricht, dass die gegen die Militärregierung kämpfenden Rebellen eine einseitige zweiwöchige Waffenruhe angekündigt und bekannt gegeben haben, in den von ihr kontrollierten Gebieten mit den Vereinten Nationen und Hilfsorganisationen zusammenarbeiten. Unsere Teams werden versuchen, in die am stärksten betroffenen Gebiete vorzudringen und die Menschen, die alles verloren haben, mit sauberem Trinkwasser, Lebensmitteln, Hygiene-Kits, Material für Notunterkünfte und Bargeld zu versorgen. Der Bedarf an Hilfe ist riesig. Daher bitten wir dringend um Spenden.

In weiten Landesteilen herrscht Bürgerkrieg, seit im Februar 2021 das mächtige Militär gegen die Partei der Friedensnobelpreisträgerin Aung San Suu Kyi putschte. Die Welthungerhilfe ist trotzdem im Land tätig?

Die Welthungerhilfe arbeitet nicht für Regierungen, sondern für Menschen. Unsere Arbeit basiert auf den humanitären Prinzipien Menschlichkeit, Unparteilichkeit, Neutralität und Unabhängigkeit. In Myanmar haben Hunger und Not schon vor dem schweren Erdbeben zugenommen. In so einer Situation ist es wichtig, dass wir vor Ort sind und die Menschen nicht im Stich lassen. Es ist immer schwierig und oft gefährlich, in Kriegsgebieten zu arbeiten, aber in bewaffneten Konflikten sind die unschuldigen Zivilisten besonders dringend auf Hilfe angewiesen.

Was haben Sie aus anderen Kriegen gelernt?

Wenn staatliche Strukturen wegen eines Krieges nicht mehr greifen, ist es besonders wichtig, die Menschen selbst in die Lage zu versetzen, ihre Situation zu verbessern. Darum setzen wir nicht nur in Myanmar auf hochmotivierte Dorfkomitees. Natürlich besteht immer die Gefahr, dass bereits erreichte Fortschritte durch Krieg wieder zerstört werden, aber das kann keine Ausrede sein, die Menschen ihrem Schicksal zu überlassen.

Worunter leiden die Menschen in Myanmar am meisten?

Der Bürgerkrieg hat dazu geführt, dass in Myanmar 3,5 Millionen Menschen im eigenen Land auf der Flucht sind. In der Folge ist die soziale Infrastruktur wie Gesundheitsversorgung, Wohnraum, Wasserversorgung und Schulen in den derzeit sicheren Landesteilen überlastet, was zu weiteren Konflikten zwischen den Geflüchteten und den aufnehmenden Gemeinden führt. Die Vertreibungen haben auch zur Folge, dass Felder nicht bestellt werden können.

Herrscht deshalb in Myanmar Hunger?

Verlässliche Zahlen gibt es nicht, aber wir müssen davon ausgehen, dass die Situation in den besonders heftig vom Erdbeben betroffenen Regionen und den umkämpften Gebieten dramatisch ist. Laut Unicef zeigt ein knappes Drittel der Kinder unter fünf Jahren bereits Anzeichen chronischer Mangelernährung.

Was unternimmt die Welthungerhilfe gegen den Hunger?

Wo die Not durch Naturkatastrophen und Vertreibungen am größten ist, leisten wir lebensrettende Nothilfe. Daneben unterstützt die Welthungerhilfe Kleinbauern und Kleinbäuerinnen beim Aufbau einer klimaresilienten Landwirtschaft. Dazu haben wir unter anderem eine Kooperative mit aufgebaut, die viele Landesteile mit hochwertigem Saatgut versorgt, damit die Landbevölkerung sich aus eigener Kraft aus Hunger und Armut befreien kann.

nd.DieWoche – unser wöchentlicher Newsletter

Mit unserem wöchentlichen Newsletter nd.DieWoche schauen Sie auf die wichtigsten Themen der Woche und lesen die Highlights unserer Samstagsausgabe bereits am Freitag. Hier das kostenlose Abo holen.

Die USA haben die Mittel für Entwicklungszusammenarbeit und humanitäre Hilfe massiv gekürzt, weitere Einschnitte sollen folgen. Wirkt sich das bereits auf Myanmar aus?

Die USA sind weltweit der mit Abstand größte Geber für Entwicklungszusammenarbeit und humanitäre Hilfe. Die massiven Kürzungen machen sich überall bemerkbar, wo Menschen in Notsituationen auf Unterstützung angewiesen sind – auch in Myanmar. Das UN-Welternährungsprogramm musste auf Grund der Kürzungen bereits Programme in Myanmar einstellen. Das wird den Hunger verschärfen.

Betreffen die Kürzungen auch die Welthungerhilfe?

Gerade in isolierten Ländern wie Myanmar ist die bisherige Unterstützung durch die USA wichtig gewesen. Wir werden uns bemühen, mit unserem Ansatz der Verknüpfung von kurzfristiger humanitärer Hilfe und langfristiger Entwicklungszusammenarbeit Gelder zu akquirieren, um diese Lücken so gut wie möglich zu füllen. Aber den weltweit steigenden Bedarf an humanitärer Hilfe bei gleichzeitig massiven Kürzungen kann niemand kompensieren.

Sie waren kurz vor dem Erdbeben in Myanmar. Wie haben Sie die Stimmung im Land erlebt?

Afghanistan, Südsudan und die Zentralafrikanische Republik – ich war beruflich schon in vielen Krisengebieten, aber ich habe die Stimmung in Myanmar als besonders bedrückend empfunden.

Woran liegt das?

Zum einen haben die Menschen jetzt im Krieg natürlich Angst um ihr Leben und das ihrer Familien. Zum anderen gab es vor dem Militärputsch mehr Freiheiten, wirtschaftlich ging es bergauf, Touristen durften das Land besuchen und schufen Einkommensmöglichkeiten, es gab Perspektiven. Der Militärputsch hat all diese Hoffnungen zunichte gemacht. Das soziale Leben findet weitgehend hinter verschlossenen Türen statt. Die Situation hat mich an Afghanistan nach der Machtübernahme der Taliban vor knapp vier Jahren erinnert.

- Anzeige -

Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.

Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.

Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.

Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.