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Syrien: Frieden und Freiheit – bisher nur ein Versprechen
Unterwegs in Damaskus, Aleppo und Daraa: Menschen in Syrien schwanken zwischen Hoffnung und Angst
»Erhebe deinen Kopf! Syrer, du bist jetzt frei!« Diese Parole findet sich an Wänden und auf Plakaten in Syriens Straßen. Der schnelle Sturz des Assad-Regimes im Dezember, das mehr als 50 Jahre an der Macht war, wird von den Menschen im ganzen Land in der Tat mehrheitlich als Befreiung empfunden. Von der inszenierten Unterstützung für den Diktator bei Scheinwahlen ist in den Stimmen auf den Straßen vieler Regionen nichts übrig. »Früher konnten wir uns kaum frei im Land bewegen. Jeder konnte ohne jede Erklärung festgenommen werden. Jetzt atmen wir frei«, sagt etwa Sami, Besitzer einer kleinen Bäckerei im Zentrum der Hauptstadt Damaskus.
Doch für den 41-Jährigen erscheint die Zukunft ungewiss. Allgemein ist die Euphorie nach dem Sturz des Despoten verflogen, die harte Realität in einem Land nach 14 Jahren Bürgerkrieg ist geblieben. Mehr als 400 000 Menschen wurden getötet, über die Hälfte der 20 Millionen Syrer musste ihre Häuser verlassen. Wohnungen liegen in Trümmern, manche Städte sind völlig zerstört, ein Wiederaufbau fraglich.
Der Mangel an strikter Kontrolle auf den Straßen ist nicht auf eine liberale Einstellung der neuen Machthaber zurückzuführen. Die Militanten, die Syrien eroberten, sind einfach zu wenige, haben einen chronischen Mangel an Arbeitskräften. Für Assads Sturz war ein ganzes Konglomerat von Rebellengruppen verantwortlich – die vom UN-Sicherheitsrat als terroristisch eingestufte Gruppe Haiat Tahrir Al-Scham (HTS) ist die größte von ihnen und führt sie an. Sie ist ein früherer Zweig der berüchtigten Dschihadistenmiliz Islamischer Staat (IS).
Etwa zehn Jahre lang konzentrierte sich die HTS auf die Provinz Idlib ganz im Norden Syriens, wo man ein »alternatives Syrien« aufbauen wollte. Dabei konnte man durchaus Erfolge verzeichnen. So gab es in Idlib selbst Strom rund um die Uhr und nicht wie in vielen anderen Städten nur für vier bis fünf Stunden am Tag. In Idlib herrscht jedoch auch seit einigen Jahren die Scharia, die von vielen Syrern als Alternative zum korrupten und moralisch verkommenen Justizsystem der säkularen Diktatur angesehen wird.
Während des Siegeszuges der HTS und ihrer Verbündeten wurde deutlich, dass diese über recht moderne Waffensysteme verfügen, wahrscheinlich Folge der engen Zusammenarbeit mit der Türkei. In Idlib und im benachbarten Aleppo kann man mittlerweile problemlos mit Türkischen Lira bezahlen, Syrische Pfund hingegen werden nicht überall akzeptiert.
»Die HTS drang in die Stadt ein, ohne einen Schuss abzufeuern. Sie wurden erwartet, willkommen geheißen, bekamen Beifall.«
Ahmet Student in Aleppo
Aleppo, die zweitgrößte Stadt in Syrien, wurde von der HTS in nur drei Tagen erobert. Sowohl die Stromversorgung als auch das Internet wurden danach dort schnell wiederhergestellt. »Wir fühlten uns wie im Himmel. Wir waren die ersten, die freigelassen wurden«, sagt der 20-jährige Ingenieurstudent Ahmet in Aleppo.
In Aleppo fanden zuvor die schwersten und langwierigsten Kämpfe statt. Assads Streitkräfte bestürmten vier Jahre lang die Metropole, bis es ihnen 2016 gelang, die Rebellen von dort zu vertreiben. Damals wurde das als Wendepunkt im Bürgerkrieg gesehen, Assad hielt sich für unverwundbar. Doch zum wahren Meilenstein wurde Aleppo erst Ende 2024 bei der Rückeroberung durch die HTS und andere Gruppen.
Die Bewohner begrüßten die Rebellen nicht nur wegen der Wiederherstellung der Infrastruktur als Befreier. »Die HTS drang in die Stadt ein, ohne einen Schuss abzufeuern. Sie wurden erwartet, willkommen geheißen, bekamen Beifall«, beschreibt Ahmet die Szenerie vom November. Wirtschaftliche Vorteile brachte ihm der Machtwechsel nicht: Er wohnt weiter auf dem Uni-Campus im Osten Aleppos in einem ungeheizten Zimmer eines Studentenwohnheims.
Nur zwei Tage nach Assads Sturz wurde in Damaskus eine Übergangsregierung gebildet. Tatsächlich handelt es sich um dieselbe »Heilsregierung«, die Idlib bereits beherrscht hatte. Fast alle ihre Mitglieder sind, obwohl es sich formal um ein Zivilkabinett handelt, mit der HTS verbunden. Für Vertreter anderer Gruppen, die am Sturz des Diktators beteiligt waren, war an der Spitze der Macht indes kein Platz. Das schafft Unzufriedenheit. »Wir sind schon vor der HTS in Damaskus einmarschiert. Auch wir wollen das Schicksal Syriens mitbestimmen«, meint etwa ein Rebell in der Stadt Daraa im Südwesten des Landes, wo 2011 der Arabische Frühling begann.
Eigentlich sollte die provisorische Regierung nur bis zum 1. März herrschen. Aber sie ist weiter im Amt. Dabei hatte sie die Schaffung einer alle Seiten einbeziehenden echten Übergangsregierung versprochen. »Wir erleben gerade eine außergewöhnliche Phase in unserer Geschichte und müssen deshalb Geduld haben«, versuchte der selbst ernannte neue Präsident Ahmed Al-Scharaa die Bevölkerung bei der Eröffnung einer nationalen Dialogkonferenz Ende Februar in Damaskus zu beruhigen. Daran nahmen etwa 600 Delegierte teil, unter ihnen Persönlichkeiten aus der Zivilgesellschaft, Religionsvertreter sowie aus dem Ausland zurückgekehrte Aktivisten. Sie berieten über die Zukunft des Landes. Das Abschlussmanifest enthielt allgemeine Formeln über ein neues Syrien und seine Souveränität. Doch im Prinzip handelt es sich um eine reine Absichtserklärung, konkrete Maßnahmen fehlen.
Unterdessen waren Vertreter der kurdischen Gebiete im Nordosten, die bereits seit 2014 ihre Autonomie verteidigen, nicht eingeladen waren. Die dort aktiven bewaffneten Syrischen Demokratischen Kräfte SDF leisteten einst einen großen Beitrag zur Niederlage des IS, mit dem das neue Staatsoberhaupt Al-Scharaa verbündet war. Die Kurden haben also Gründe, den neuen Behörden zu misstrauen, auch wenn diese den Minderheiten Schutz versprechen.
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Kurdische Milizen kontrollieren etwa 30 Prozent des Staatsgebietes, unterstützt von etwa 2000 US-Soldaten, die dort die größten Öl- und Gasfelder des Landes und auch die Gefängnisse bewachen, in denen viele IS-Kämpfer einsitzen. Am 10. März unterzeichneten Al-Scharaa und der Kommandeur der SDF ein Abkommen, dem zufolge diese Teil der Sicherheitskräfte unter der Übergangsregierung werden. Darüber sollen demnach alle zivilen und militärischen Einrichtungen der kurdischen Autonomieregion einschließlich des Flughafens sowie der Gas- und Ölfelder der Regierung in Damaskus unterstellt werden.
Am 13. März wurde in Damaskus eine Verfassungserklärung veröffentlicht, die für die nächsten fünf Jahre die Rechtsgrundlage des Regierungshandelns im Land auf Basis der Scharia bilden soll. In dieser Zeit sollen Präsidentschaftswahlen abgehalten und eine neue, inklusive Regierung gebildet werden. Die Kurden monierten indes, das Konzept ähnele »dem Regierungsmodell der Assad-Ära«.
»Angesichts des Beispiels des ukrainischen Präsidenten Selenskyi, der die US-Unterstützung verliert, bereiten wir uns auf das Schlimmste vor. Wir verlassen uns nur auf unsere eigene Stärke«, kommentiert ein Vertreter eines kurdischen Kommandos, der sich nur anonym äußern will, die Lage. US-Präsident Donald Trump will bald über die Zukunft der US-Soldaten in Syrien entscheiden. Ein Aufruf des in der Türkei inhaftierten PKK-Chefs Abdullah Öcalan, den bewaffneten Kampf zu beenden und sich stattdessen friedlich zu engagieren, lässt die syrischen Kurden unberührt.
Der in Frankreich lebende türkische Journalist und Nahost-Experte Fehim Taştekin sieht für die syrischen Kurden keine Konsequenzen aus Öcalans Kurswechsel. »Zunächst einmal sind die USA in diese Sache verwickelt«, konstatiert er. »Also braucht es Verhandlungen mit den Amerikanern und eine Einigung mit ihnen.« Zudem verfüge Nordostsyrien, anders als andere Teile Kurdistans, »über eine faktisch autonome Struktur mit eigenen Errungenschaften. Deren Schutz ist das Hauptziel der Kurden.« Darüber hinaus hätten die Kurden in Syrien erfolgreich dem Druck protürkischer Milizen widerstanden, »ihre Autonomie zu beenden, während auch Assads Regime zusammenbrach«.
Bisher bekundet Al-Scharaa den Wunsch nach Freundschaft mit allen externen Kräften und sogar nach Beilegung der Streitigkeiten mit Israel. Eine Änderung der Rhetorik gibt es auch gegenüber Russland, das Assad unterstützte und wohl auf Dauer zwei Militärstützpunkte im Land unterhält. Sie sind für die Syrer Teil eines fragilen Gleichgewichts zwischen türkischem Militär im Norden, israelischen Truppen im Süden und der US-Armee im Osten des Landes. Die Basis der HTS scheint den Wunsch nach diesem Gleichgewicht zu unterstützen. »Wir sind der Türkei für ihre Unterstützung dankbar – sowohl militärisch als auch diplomatisch. Aber wir wollen keine türkische Marionette werden. Wir nehmen unser Schicksal selbst in die Hände«, meint dazu eine HTS-Sicherheitskraft in Damaskus.
Dagegen sind lokale Rebellengruppen mit Al-Scharaas sanftem Vorgehen nicht einverstanden. Immer wieder kam es zu den schlagzeilenträchtigen Zusammenstößen zwischen ihnen und den Alawiten. Weil auch der gestürzte Machthaber Baschar Al-Assad dem alawitischen Glauben angehört, gelten Alawiten HTS-Kämpfern und anderen Rebellen als Unterstützer und Profiteure seines Regimes. Kürzlich gab es einen Aufstand von Alawiten in ihrer Heimatprovinz Latakia, bei dem mehrere HTS-Kämpfer getötet wurden. Die Miliz reagierte mit einem Massaker an Hunderten Zivilisten. Die neue Regierung bekommt ungeachtet dessen international weiter Unterstützung, insbesondere von der EU.
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