Flüchtlingscamps in Tunesien: Die große Vertreibung

Die Räumung der Olivenhaine in Tunesien dauert an. Sicherheitskräfte zerstören Zeltlager und gehen brutal gegen Geflüchtete vor

Rund 30 000 Geflüchtete befinden sich an dem Küstenabschnitt zwischen Sfax und Mahdia. Ihre humanitäre Situation spitzt sich dramatisch zu.
Rund 30 000 Geflüchtete befinden sich an dem Küstenabschnitt zwischen Sfax und Mahdia. Ihre humanitäre Situation spitzt sich dramatisch zu.

Die schnurgerade Landstraße zwischen Sfax und Al-Amra wirkt menschenleer. Links und rechts stehen schier endlose Reihen von Olivenbäumen. Nach Sonnenuntergang suchen dort die mit Plastiktüten bepackten Migranten Schutz. Sie transportieren Lebensmittel aus Sfax, der größten Handelsstadt Tunesiens, in die versteckten Flüchtlingslager abseits der Straße. Mit dem ersten Tageslicht brechen kleine Gruppen in Richtung der zwischen Olivenhainen versteckten Zeltstädte auf. Die Stille auf der parallel zum Mittelmeerstrand verlaufenden Straße ist das einzige Anzeichen der Tragödie, die sich ein paar Kilometer weiter abspielt.

Nur ab und zu preschen Konvois von vergitterten Mannschaftstransportern vorbei. Kurz vor dem Fischerdorf Al-Amra biegen die Fahrzeuge der Nationalgarde auf einen Sandweg in die Olivenhaine ab. Dort steigen pechschwarze Rauchsäulen in den Himmel auf.

Kilometer »25« und »30«, zwei nach ihrer Entfernung von Sfax benannten und selbst organisierten Flüchtlingslager, werden seit vergangenen Montag geräumt. Planierraupen schieben die Zelte der aus dem südlichen Afrika kommenden Migranten und Flüchtlinge zusammen, Plastik und Holzbretter gehen in Flammen auf. An dem 50 Kilometer langen Küstenstreifen zwischen Sfax und Mahdia leben mehr als 30 000 Menschen, schätzen tunesische Menschenrechtsaktivisten.

Eigentlich wollen fast alle von ihnen weiter nach Europa, »über den großen Fluss« Lampedusa erreichen. Doch seit Tunesien mit der EU vor zwei Jahren ein Migrationsabkommen geschlossen hat, fängt die Küstenwache mithilfe von Drohnen fast alle Schmugglerboote ab.

Nachdem eine Polizeipatrouille vorbeigefahren ist, huscht ein junger Mann aus seiner Deckung hinter einem Olivenbaum auf die Landstraße C 82. Seine Augen tasten ängstlich die Gegend ab. Abdallah kommt aus Guinea und wohnt im »Kilometer 10«. »Ich hatte im Februar ein Platz auf einem Boot nach Lampedusa ergattert«, sagt er und klopft den Ruß von seiner Jacke. »Doch die Küstenwache hat unser Boot aufgebracht. Dann wurden wir in einem Bus an die libysche Grenze gebracht. Ich habe mich in einem wochenlangen Fußmarsch zurück in das Lager ›Kilometer 10‹ gekämpft, aber auch das ist gestern abgebrannt.«

Odyseen wie diese haben viele hinter sich, mit denen man an dem unscheinbaren Küstenstreifen ins Gespräch kommt. Etwas weiter nördlich, in der Touristikzone von Mahdia, genießen europäische All-inclusive-Touristen den hier besonders feinen Sandstrand. Am südlichen Ende von Afrikas Sprungbrett nach Europa, im Industriegebiet von Sfax, entsteht der Stahl für die Metallboote, die in wenigen Stunden zusammengeschweißt werden und mit denen die Migranten »ins gelobte Land« übersetzen. »Nach Schengen«, wie der 21-jährige Abdallah sagt. Er hat Guinea-Bissau im Januar 2023 verlassen, wurde seitdem von Schleppern betrogen, in die Wüste ausgesetzt, von den Beamten um seinen Bargeldvorrat gebracht. »Mein Kochgeschirr, meine Kleidung und meine Decke wurden verbrannt. Letzte Nacht habe ich frierend im Sand geschlafen.«

Nun schlägt sich der 21-Jährige zum »Kilometer 25« durch, dort soll es inzwischen wieder ruhig sein – »immer mit der Angst, von einer Streife erwischt und wieder in die Wüste deportiert zu werden«, sagt Abdallah.

Wegen der Wirtschaftskrise in seiner Heimat hat er sich auf den Weg gemacht. Seine Familie hat zusammengelegt, nach der zweiten gescheiterten Überfahrt nach Lampedusa das letzte Schaf verkauft. »Auf mich wartet zu Hause niemand. Wenn ich zurückkomme, steht meine Familie vor dem Nichts.« Eine Narbe an seinen Handgelenken zeugt von der letzten Abschiebung, mit Plastiktape hatten die Beamten ihn und die anderen Bootsinsassen an libysche Schmuggler übergeben.

Zusammen mit Gleichaltrigen aus dem Sudan konnte er die Milizen überreden, als Tagelöhner zu arbeiten, ihnen blieb die sonst übliche Folter mit Knüppeln erspart, die gefilmt und per Whatsapp an die Familien der Opfer geschickt werden. Über das informelle Hawala-Netzwerk oder Westernunion zahlen diese dann Lösegeld. »Im Vergleich zu Libyen und Algerien war die Lage in Tunesien noch menschlich«, so Abdallah, der aus Angst vor der Polizei seinen Nachnamen nicht veröffentlicht sehen will. »Die Bevölkerung in Al-Amra oder Dschebeniana hat uns sogar täglich Lebensmittel gespendet. Man konnte sich auf den Olivenfeldern als Pflücker Geld verdienen.«

Doch damit soll es jetzt vorbei sein. Nun setzen die Behörden auf Abschreckung. In den beiden Fischerdörfern darf man nicht mehr an Migranten Wohnungen vermieten, sie nicht im Taxi mitnehmen oder anstellen. Denn während der tunesischen Küstenwache dank Drohnen und Geld aus Europa kaum noch ein Boot nach Lampedusa entwischt, sind die Grenzen in die Nachbarländer und die dortigen Migrationsrouten weiter offen. »Es kommen immer mehr Afrikaner an«, sagt Mohamed Al-Rahdschi, ein Kioskbesitzer in Al-Amra. »Ja, die Wut auf die ungeregelte Migration steigt. Aber gleichzeitig verdienen auch viele meiner Nachbarn Geld mit den Migranten. Mit den neuen Verboten sogar noch mehr, denn die Schwarzmarktpreise sind gestiegen. Die Räumung der Camps ist nur Augenwischerei für die Öffentlichkeit.«

Abdallah zeigt auf dem sich durch die Olivenhaine windenden Sandweg seine tunesischen Kontakte auf seinem Telefon: Schmuggler, Mopedfahrer, die Schleichwege ohne Kontrollpunkte kennen, Mittelsmänner, die Überweisungen aus Westafrika bei der Post abholen, sogar ein Pizzaservice. Doch er zeigt auch Bilder von dem Moment, als die Küstenwache das Boot stoppte, in dem er mit 45 anderen Geflüchteten saß. »Sie nahmen uns den Außenbordmotor weg und ließen uns eine Nacht in den Wellen treiben. Niemand weiß, viele Boote bei solchen Strafaktionen sinken.«

Die selbstorganisierten Lager »Kilometer 25« und »Kilometer 30« wurden von Radladern dem Erdboden gleichgemacht.
Die selbstorganisierten Lager »Kilometer 25« und »Kilometer 30« wurden von Radladern dem Erdboden gleichgemacht.

Jaja Darbo ist einer der gewählten Anführer von »Kilometer 25«. Er kommt aus Gambia und bestätigt, wie gut organisiert das Netzwerk der Migration im Sahel und in Nordafrika ist. »Von Agadez in Niger über Südlibyen und Tripolis bin ich in einem Lastwagen bis an die tunesische Grenze gekommen«, sagt Jaja Darbo am »Kilometer 25«. »Ohne an irgendeinem Kontrollpunkt angehalten worden zu sein. Die Schmuggler zahlen alle im Voraus.«

Sfax galt als das beliebteste Ziel am südlichen Mittelmeer all derer, die Arbeitslosigkeit oder Krieg entfliehen wollten. Bis vor zwei Jahren die »Nationale Partei Tunesiens« eine Art Bürgeraufstand anzettelte: Die Migranten wurden aus ihren angemieteten Wohnungen und der Stadt gejagt, seitdem leben sie versteckt »in den Oliven«.

Wer sich nicht bei der Internationalen Organisation für Migration (IOM) für ein Rückführungsprogramm in die Heimat anmelde, werde an die algerische oder libysche Grenze gebracht, warnte ein Vorauskommando der Nationalgarde. Die UN-Organisation für Migration werde die Rückreise in die Heimat organisieren, versprachen die Beamten.

Stunden später stürmten sie mit Schutzschildern, Knüppeln und Gewehren den »Kilometer 30«. Ausgerechnet das am besten organisierte Lager entlang der 60 Kilometer langen Küste ging zuerst in Flammen auf.

»Sie leben auf einem Privatgelände, gehen Sie woanders hin«, warnte die Polizei mit einer Lautsprecherdurchsage. »Aber wohin?«, fragten Sprecher der Zeltstädte wie Jaja Darbo. Nun schlafen die 4000 Bewohner ohne Zelte oder Lebensmittel im Freien. Im Schutz der Dunkelheit, hatten Zivilisten am »Kilometer 25«, dort wo hauptsächlich Gambier und Senegalesen wohnen, die Zelte der Schlafenden angezündet. Darbo sagt, er habe ein Baby vor den Flammen gerettet, mehrere seien Menschen verletzt worden.

»Seit Februar dürfen uns auch die lokalen Apotheken keine Medikamente mehr aushändigen«, klagt Ibrahim Foufana in einem von Plastikfolie, Brettern und Klebeband zusammengehaltenen Feldkrankenhaus. Der 26-jährige angehende Chirurg aus Sierra Leone behandelt zusammen mit einem Team von Freiwilligen Verletzte, chronisch Kranke und hilft schwangeren Frauen bei der Geburt.

Während der Räumung fielen auch Schüsse, sagt er, während er einen von Schlagstöcken zerquetschen Finger verbindet. Ein Unbekannter habe bei »Kilometer 33« auf Migranten geschossen, berichten Augenzeugen. Einem, Mustafa Abote, nahmen die Sanitäter zwölf Schrotkugeln aus dem Rücken, ein anderer verstarb noch an Ort und Stelle. Über Rechtsanwälte in Sfax rief das Ärzteteam einen Krankenwagen. Der kam auch, doch die Spur des angeschossenen Mannes aus Sierra Leone verliert sich in einer Polizeiwache.

»Auf mich wartet zu Hause niemand. Wenn ich zurückkomme, steht meine Familie vor dem Nichts.«

Abdallah
21-jähriger Flüchtling aus Guinea-Bissau

Seit dem letzten Wochenende ist das Krankenhaus am »Kilometer 30« nur noch ein Berg von Trümmern und Sand. Damit fällt der einzige Behandlungsort für über 4000 Menschen weg. »Seit die tunesischen Krankenhäuser selbst hochschwangere Migrantinnen ablehnen, werden Kinder nun im Freien zur Welt gebracht«, sagt Foufana. In der Hand hält er einen Schuhkarton mit Schmerzmitteln und Verbandsmaterial, seine letzten Vorräte.

In den kommenden Tagen sollen weitere illegale Camps geräumt werden, berichtet ein Sprecher der Nationalgarde den Journalisten aus Sfax. Dass es die Behörden selber waren, die Migranten und Flüchtlinge in die Olivenhaine beordert hatten, ließ er unerwähnt.

Bis Freitagmorgen haben sich knapp 200 Migranten bei der IOM in Al-Amra für ein Rückführungsprogramm in die Heimat angemeldet. Auch sie berichten dem »nd« von der Furcht, dass die Beamten der Nationalgarde sie in Bussen an die algerische Grenze deportieren könnten.

Ibrahim Foufana ist mit seinem Team mittlerweile zusammen mit den Bewohnern von »Kilometer 30« tiefer in die Olivenhaine gezogen. »Es gibt kein funktionierendes Rückführungsprogramm«, sagt ein Patient und lacht, während Foufana seine Platzwunde am Kopf behandelt. »Wir nennen uns einfach ›Kilometer 31‹ und warten weiter.«

Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.

Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.

Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.

Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.

- Anzeige -
- Anzeige -