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Anleitung für Staatsfeinde
Olivier David über die anhaltende Repressionswelle gegen Linke in Deutschland
Nie war es so einfach, in Deutschland Staatsfeind zu werden. Mit dieser Schritt-für-Schritt-Anleitung bist auch du bald im Visier des Verfassungsschutzes. Probier’s aus!
1. Nehmen wir an, du hast ein Problem. Sagen wir, du findest es nicht gut, wenn Menschen in einem Land arm sind, in dessen Grundgesetz steht, dass niemand wegen seiner Abstammung benachteiligt werden darf.
2. Die einzige Form der Abstammung, die du siehst, ist der Umstand, dass deine Familie eigentlich immer arm war. Nehmen wir ferner an, dass du deswegen Benachteiligung wahrnimmst. Du bist nicht bereit zu akzeptieren, dass das Land, in dem du lebst, seine eigenen Gesetze bricht. Es folgt, dass du mit diesem Land in Konflikt stehst. Aus einem Problem wurde ein Konflikt.
3. Konflikte gibt es viele, warum soll ausgerechnet dein Konflikt einer sein, der dich zum Staatsfeind macht, denkst du dir. Du hast einen Konflikt mit dem Staat, mehr nicht. Du denkst an Aufstieg, du fragst dich, warum soll die Glücksfee dir nicht ein paar gute Karten in die Hände legen. Oder Chancengleichheit: Warum soll nicht auch mal ein Bonze absteigen?
4. Es vergeht ein bisschen Zeit. Kein Bonze steigt ab. Und falls doch, steigst du dafür nicht auf. Keine Rettung in Sicht, nur du und das Grundgesetz, und ihr schaut euch an. Das Grundgesetz sagt: Jetzt lies mich nicht so genau, ich werde gleich rot! Und du denkst: Ja, werd’ mal rot!
5. Mit Chancengleichheit und Aufstieg kommen wir nicht weiter, das wird dir klar. Kapitalismus und Demokratie kritisieren – das bedeutet nicht dagegen zu sein, sondern bloß gegen die Art und Weise, wie sich beides ausprägt. Allein: Es prägt sich auf magische Art und Weise immer so aus, dass in deiner Familie die meisten arm bleiben.
6. Alles muss man selber machen, denkst du und nimmst dir ein Buch. Sagen wir, das Buch ist der erste »Kapital«-Band von Karl Marx. Du verstehst kein Wort. Gott sei Dank gibst du nicht auf, und wie es der Zufall so will, läuft dir eine Werbung für eine marxistische Abendschule über den Weg. Du gehst hin.
7. Du bist nicht allein dort. Aber anders, als du denkst. Die marxistische Abendschule wird im Hamburger Verfassungsschutzbericht aufgeführt. Das bedeutet: Neben dir sind noch alle anderen Wissenshungrigen Teil eines Lesekreises, für den sich der Verfassungsschutz interessiert.
8. Du stehst schon mit einem Bein im Widerstand. Pass’ gut auf, was du tust, Staatsfeind!
9. Du hörst von anderen Staatsfeinden. Manche von ihnen haben nicht mal eine Verurteilung, aber dennoch droht ihnen die Ausweisung. Andere sind Mitglied in einer Vereinigung, die sich entschieden gegen rechts engagieren. In Österreich droht einer Frau die Ausweisung, weil sie sich auf die Straße geklebt hat. Du lernst Menschen kennen, die von Berufsverboten betroffen sind. Wieder andere waren zur falschen Zeit am falschen Ort. Auf einmal siehst du überall Staatsfeinde.
10. Du bemerkst, du bist nicht allein damit, dass der Staat dich hasst, dafür, dass du die Ungerechtigkeit nicht hinnehmen willst. Das kann ein Anfang sein.
Olivier David ist Autor und Journalist. 2022 erschien von ihm »Keine Aufstiegsgeschichte«, in dem er autobiografisch den Zusammenhang von Armut und psychischen Erkrankungen beschreibt. Bevor er mit 30 den Quereinstieg in den Journalismus schaffte, arbeitete er im Supermarkt und Lager, als Kellner und Schauspieler. 2024 erscheint sein Essayband »Von der namenlosen Menge« im Haymon Verlag. Für »nd« schreibt er in der monatlichen Kolumne »Klassentreffen« über die untere Klasse und ihre Gegner*innen. Alle Texte auf dasnd.de/klassentreffen. Zudem hostet er einen gleichnamigen Podcast über Klasse, Krise und Kultur. Alle Folgen auf dasnd.de/klasse.
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