Ende der Letzten Generation: Scheitern an einer falschen Strategie?

Die Letzte Generation war ein Paukenschlag der Protestkultur. Wie die Forschung ihre Wirkung beurteilt

Die Letzte Generation wollte eine bürgerliche Bewegung sein. Wahrgenommen wurden die Aktivisten als Extremisten.
Die Letzte Generation wollte eine bürgerliche Bewegung sein. Wahrgenommen wurden die Aktivisten als Extremisten.

Der Platz der Luftbrücke im Berliner Südwesten ist für Carla Hinrichs ein Ort des Widerspruchs. Um die Ecke befindet sich der Polizeigewahrsam Tempelhof, die größte Gefangenensammelstelle Berlins. »Da wurden wir immer hingebracht nach den Straßenblockaden«, sagt die ehemalige Sprecherin der Letzten Generation dem »nd«. Der große Gefängnistrakt, Zelle an Zelle, Schuhe vor den Türen, die zeigen, wie viele Menschen hier gerade festgehalten werden – Hinrichs empfindet das als »Einschüchterungszentrum«. »Alles da drin ist gelb, runtergerockt, ranzig – ganz, ganz unangenehm«. Einsam und ausgelaugt fühlte sie sich hier. Aber auch: Hoffnungsvoll. Vor der Sammelstelle warteten Unterstützer*innen der Letzten Generation, bis die Gefangenen freikamen; hier gab es warme Umarmungen und Mahlzeiten nach der Zelle. Abende voller Zusammenhalt.

Nun sitzt Hinrichs wieder in dem kleinen Park um das Luftbrückendenkmal. Auf der Wiese unter einem Baum hat sie das letzte schattige Plätzchen ergattert. Es ist heiß. Wahrscheinlich zu heiß, für Mitte April. Hinrichs nimmt ihre Sonnenbrille ab. Sie möchte erklären, wieso die Letzte Generation so handelte, wie sie es eben tat. Es wird ein Gespräch über unwägbare Entscheidungen und schmerzhafte Erkenntnisse.

Wer nicht stört, wird nicht gehört

Die Letzte Generation gibt es nicht mehr. Bereits im vergangenen Sommer verkündete die österreichische Fraktion das Ende der Proteste, im Dezember dann dieselbe Nachricht aus Deutschland. Vor wenigen Wochen zogen die britischen Aktivist*innen von Just Stop Oil nach. Die Gruppen sind verschwistert, alle gehören zur Dachorganisation A22-Netzwerk und setzen auf ähnliche Strategien: Warnwesten, Straßenblockaden, beschmierte Gemälde und Gebäude. »Wer nicht stört, wird nicht gehört«, sei eines der Credos der Gruppen gewesen, erklärt Hinrichs.

Sicher ist: Gehört wurden sie. Aber zu welchem Preis? Protestforscher*innen sind weiterhin dabei, zu verstehen, wie die Proteste ihre Wirkung entfaltet haben – regelmäßig erscheinen neue Studien darüber. Wie ist der aktuelle Stand der Forschung? Scheiterte die Letzte Generation an einer falschen Strategie? Oder hat sie ihren Protest eingestellt, obwohl er erfolgreich war?

»Es wäre falsch zu behaupten, dass die Gruppen aufgehört haben, weil sie nichts erreicht haben«, sagt Markus Ostarek vom britischen Forschungsinstitut Social Change Lab. Es gibt wohl wenige, die so intensiv zu den Gruppen des A22-Netzwerks geforscht haben, wie er.

Das Dilemma des Aktivismus

Ostarek betrachtet Aktivismus in einem Spannungsfeld: »Die Methoden, die die meiste Aufmerksamkeit bringen, sind gleichzeitig die unbeliebtesten«, sagt er. »Als Aktivist muss man sich also entscheiden: Will ich öffentliche Aufmerksamkeit und möglicherweise eine starke Gegenreaktion – oder riskiere ich, dass die Menschen überhaupt nicht wahrnehmen, was ich tue?« In der Forschung spricht man vom »Activist’s Dilemma«, also dem »Dilemma des Aktivisten«.

»Die Methoden, die die meiste Aufmerksamkeit bringen, sind gleichzeitig die unbeliebtesten.«

Markus Ostarek Social Change Lab

Man könne dieses Konzept auch in die Suche nach einer goldenen Mitte übersetzen, so Ostarek: Studien zeigten etwa, dass der Einsatz von Gewalt zwar viel Aufmerksamkeit erzeugt, aber die Ablehnung der Gesellschaft deutlich überwiegt. Anders sehe es aus, wenn Protestierende als gewaltfrei und vor allem konstruktiv wahrgenommen werden – dann sei es möglich, dass das gewonnene Interesse schwerer wiegt, als die damit einhergehende Ablehnung.

In einer Studie vom Dezember 2024 beschreibt Ostarek eine Situation, die einer solchen goldenen Mitte nahekommen könnte: Im November 2022 brachten 50 Personen von Just Stop Oil den Verkehr auf der Londoner Ringautobahn M25 immer wieder zum Stehen, indem sie Schilderbrücken erklommen. Eine repräsentative Umfrage vor und nach der einwöchigen Protestwelle ergab: Menschen, die in diesem Zeitraum verstärkt auf Just Stop Oil aufmerksam wurden, identifizierten sich danach stärker mit der Umweltorganisation Friends of the Earth und deren Anliegen. Der Bund für Umwelt und Naturschutz (BUND) ist der deutsche Ableger von Friends of the Earth.

Auf die Unterstützung von klimapolitischen Maßnahmen hatten die Aktionen einen deutlich schwächeren Effekt, der statistisch nicht signifikant war. Möglicherweise führten die Blockaden bei Klimaskeptikern zu einer noch größeren Ablehnung von Klimapolitik.

Hinweise auf den positiven Effekt einer radikalen Flanke

Ostarek sieht in der Studie einen Hinweis auf den »Effekt der radikalen Flanke«: Die Aktivitäten einer radikaleren Gruppe hatte einen positiven Einfluss auf die Wahrnehmung einer moderaten Gruppe. Der Effekt ist ein wichtiges Konzept aus der Protestforschung. Studien, die ihn anhand von tatsächlichen Ereignissen nachweisen konnten, gab es indes bis dahin kaum.

Zurück auf die Wiese bei der Gefangenensammelstelle: Carla Hinrichs findet »Untersuchungen, die dem Protest eine gewisse Legitimität geben«, wichtig. Auch sie sagt, dass es der Letzten Generation immer darum ging, einen Mittelweg zu finden. »Das Unterbrechen des Alltags haben wir immer versucht zu ergänzen mit bildstarken Protesten«, erklärt Hinrichs und verweist auf eine Aktion, bei der sie das Grundgesetz-Denkmal in Berlin mit Öl beschmiert hatten. »Ohne die Straßenblockaden hätten es solche Proteste nie in die Öffentlichkeit geschafft.«

In Erinnerung bleiben werden jedenfalls nicht die zahmen, bildhaften Aktionen, sondern eben die Straßenblockaden, die Störaktionen bei großen Sportevents, der Kartoffelbrei auf dem Monet-Gemälde. Forscher Ostarek meint, die Gruppen aus dem A22-Netzwerk hätten einen Proteststil perfektioniert, der darauf ausgelegt war, größtmögliche Aufmerksamkeit zu erzeugen – egal ob die Aktion intuitiv Sinn ergibt oder nicht. Ist ein Protest direkt erkennbar mit seinem Ziel verknüpft, spricht man von einer »hohen Aktionslogik«. Das ist etwa der Fall, wenn Aktivist*innen einen bedrohten Wald besetzen. Was aber hat ein beschmutztes Monet-Gemälde mit dem Klimawandel zu tun?

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Der Wert einer Aktion ohne erkennbaren Sinn

Die Aktionen von Gruppen wie der Letzten Generation und Just Stop Oil könnten ein altes Dogma der sozialen Bewegungen ins Wanken gebracht haben, demzufolge eine hohe Aktionslogik ausschlaggebend für den Erfolg von Protest ist. In einer Studie vom Februar 2025 konnte Ostarek mit seinen Kolleg*innen vom Social Change Lab zeigen, dass unlogische Aktionen eine größere Medienresonanz und höhere Spenden für die beiden untersuchten Gruppen einbrachten. »Menschen mit dem traditionellen Bild, dass es superwichtig ist, eine hohe Aktionslogik zu haben, sollten sich fragen, was genau ihre Theorie des Wandels ist«, sagt der Forscher. Wenn diese nämlich darauf basiert, massive öffentliche Aufmerksamkeit zu erlangen, dann könnte es sich lohnen, auf Proteste mit niedriger Aktionslogik zu setzen – auch wenn das öffentliche Ansehen darunter leidet.

Allerdings erschien nur einen Monat zuvor auch eine Vorveröffentlichung einer Forschungsgruppe aus den USA, Großbritannien und Frankreich, die gegen diese These spricht: In einer repräsentativen Umfrage kam heraus, dass Straßenblockaden oder Sachbeschädigungen eher dazu führten, dass sich weniger Menschen der Klimabewegung anschließen wollen und klimapolitische Maßnahmen weniger unterstützen. Ostarek betont, dass diese Studie nicht so realitätsnah ist, wie seine eigene Arbeit, weil sie nicht mit Daten von echten Protesten arbeitet, sondern hypothetische Szenarien untersucht. Trotzdem zeigt dies: Die Forschung ist sich bei der Bewertung der neuen Protestform der Letzten Generation und Co. bei Weitem nicht einig.

Verfassungstreue Verfassungsfeinde

Hinzu kommen Auswirkungen, die solche Studien überhaupt nicht in Betracht ziehen: Die vermeintlichen Organisator*innen der M25-Blockade sitzen inzwischen mehrjährige Haftstrafen ab. Carla Hinrichs ist gemeinsam mit weiteren Aktitivist*innen angeklagt, Mitglied einer kriminellen Vereinigung nach § 129 Strafgesetzbuch zu sein. Auch ihr droht eine längere Haftstrafe. »Die wissen alles über mich, kennen jedes meiner Telefonate, haben mein Notizbuch und kommen trotzdem zu dem Schluss, dass ich näher an einem Terroristen bin, als an einem friedlichen Bürger«, sagt Hinrichs. »Das ist so, so, so beängstigend«.

Es ist der wohl die bitterste Entwicklung für die Letzte Generation: Der Protest begann mit einem festen Glauben an die Verfassung, er wollte den Staat zum Einhalten seiner eigenen Klimaziele bewegen. Er endete mit Aktivist*innen, die von der Justiz als Verfassungsfeinde bekämpft werden.

Hinrichs selbst begann Jura zu studieren, weil sie davon beeindruckt war, wie in Deutschland nach zwei schrecklichen Kriegen so eine »tief beeindruckende Verfassung« entstanden ist. Nun spricht sie davon, dass »gerade diese Demokratie es nicht aushält, wenn sich eine Handvoll Menschen auf die Straße kleben«. Hier, an diesem Ort, der für sie Gefangenschaft und Freiheit zugleich bedeutet, spürt man: Der Protest hat ihren Glauben erschüttert.

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