Ein Freund will nach oben

Der Kollege war schlau, nett, witzig und suchte meine Nähe. Dann kam die Zeitungskrise

  • Klaus Ungerer
  • Lesedauer: 7 Min.
Seit seinem Zusammenbruch hatte Andi ein Pfeifen im Ohr.
Seit seinem Zusammenbruch hatte Andi ein Pfeifen im Ohr.

Dies hier sind nur vier Geschichten von Andi Pflaumenmus.

Eines Tages kam der Praktikant mit dem Eierkopf bei mir rein in mein Fatz-Redakteursbüro. Ich sei der und der, sagte der Praktikant, mich wolle er auch unbedingt kennenlernen. Wir könnten ja mal essen gehen.

Mit Andi Pflaumenmus essen zu gehen, war immer auch ein bisschen unappetitlich. Sein Hirn rotierte auf Hochtouren, jedes Thema konnte er schlagfertig, hypergebildet, klug und witzig parieren – sogar Fußball. Wie ein großes Fangnetz hatte er seinen überlegenen Geist über die Welt geworfen, er sah und verstand alles, was sich in ihr abspielte. Nur was sich direkt unterhalb seines Gehirns abspielte, war für ihn nicht einsehbar. Oft hingen Essensreste von seinen Fingern oder an seinen üppigen Lippen. Er sah die nie. Ich machte ihn darauf aufmerksam, ah, ach so, und mit seinen marionettenhaften Bewegungen – oder wie heißen so Puppen, wo die Gliedmaßen von unten bewegt werden, Stabpuppen? – wedelte und wischte er das Geschlonz weg, während sein Gehirn weiter rotierte und er schon wieder das nächste Thema gewitzt anstieß. Wir hatten Spaß. Wir wurden Freunde. Ich dachte, wir wären Freunde geworden.

Andi Pflaumenmus hatte ein Pfeifen im Ohr. Seit seinem Zusammenbruch, dem Zusammenbruch, den viele begabte Leute haben, wenn sie so 18 oder 19 sind. Leute, die sich dann umbringen oder abschießen oder halb umbringen und eingeliefert werden. Und die dann manchmal wieder rauskommen und die Welt erobern. Ich fragte ihn, ob er das immer hätte, dann lauschte Andi Pflaumenmus kurz in seinen Kopf hinein. Ja, nickte er, das wäre immer da, so im Hintergrund.

Wir liefen durch Lissabon, Andi Pflaumenmus und ich. Wir hatten ein Zimmer in einer Pension zusammen, Andi Pflaumenmus sprach natürlich auch Portugiesisch. Wir stapften durch die Alfama, wir stromerten durchs Zentrum mit seinen Cafés, wir stiegen zu so einer Festung hoch oder so, wir blickten über den Tejo. Immer hatte ich ein bisschen Sorge, dass man uns für ein schwules Pärchen halten könnte.

In Lissabon gab es einen Bettler, der kein Gesicht mehr hatte. Unter seinem Haupthaar war nur eine pfannengroße, unförmige, wulstige Wucherung. In meiner Erinnerung spielte er Flöte, wie auch immer. Als sein Anblick mich traf, war ich fassungslos. Andi Pflaumenmus hatte ihn gar nicht bemerkt, unternehmungslustig lief er weiter Richtung Place de Pombal, zum nächsten Café, und ich vermied es, ihn auf den Gesichtslosen hinzuweisen.

Andi Pflaumenmus’ Kopf nickte im Gespräch zackig wie der einer Taube auf Krümelsuche, die Krümel, die unbemerkt an seinen Lippen klebten, seine Augen quollen leicht vor, wie bei Özil. Es war angenehm, von ihm angesehen zu werden, denn er hörte zu, während die klugen, witzigen Stimmen in seinem Kopf weiterquasselten. Oft unterbrach er einen, wenn man einen einigermaßen gelungenen Gedanken zur Hälfte ausgeführt hatte, er hatte dann schon kapiert, und er sattelte im Nu noch obendrauf.

Eines Tages kam die Krise. Die Zeitungskrise. So wie wenn ein Flugzeug über den Wolken von einem plötzlichen donnernden Schlag durchgeruckt wird, wenn die Augen der Menschen an Bord einander schreckgeweitet suchen, wenn auf einmal der pfeifende Lärm draußen lauter wird, Qualm quer vor den Fenstern seitwärts rast, die Flugzeugnase sich spürbar und unumkehrbar senkt, so kam auch das hochherrschaftliche Fatz-Raumschiff, so kam das ganze oberfeine Zeitungsmachermetier von einer Sekunde auf die andere in den Sinkflug. Menschen sprangen ab, Menschen schrien, Menschen wurden aus den Fenstern gesogen, große Pläne wurden eingesargt über Nacht. Unser Herausgeber machte sich zum bundesweiten Gespött, weil er mit Grandezza schnell noch sein ganzes Fatz-Föhjetong von F. nach Berlin verschieben wollte.

Mir machte das ja gar nicht so viel aus. Hatte ich je Journalist sein wollen? Würde ich mich nun auch festkrallen und brüllen müssen? Die Controller wollten mir an den Kragen, doch der Herausgeber hatte eine Idee: Ich müsse, so hieß es, im Fatz-Auftrag nach München gehen, dort habe eine Planstelle den ganzen Abbau überlebt, und zwar diejenige, die vor der Krise für Andi Pflaumenmus vorgesehen war: Von hier aus hätte er das ganze Fatz-Reich erobern sollen.

Daraus wurde nun nix. Ich wuchs nach München hinunter, Andi Pflaumenmus blieb als freier Mitarbeiter in seiner Stadt, wir blieben uns gewogen. Wir besuchten uns, telefonierten, schrieben uns, unter spätjugendlichem Hormondruck quellend, schwungvoll-romantische Mails, uns ergötzend an unserer Einsamkeit, unserer Herausgehobenheit, unserem empfundenen Können, unseren Verliebtheiten. Ich hatte den Job, ich ließ mich treiben, Andi Pflaumenmus bastelte sich derweil eine neue, aktualisierte Karriere. Als sie mich schließlich doch betriebsbedingt rauswarfen, war er schon längst ganz vorne im Geleitzug von Ulf Stulle. Ulf Stulle wiederum pflügte in einem anderen Zeitungsverlag ganz nach oben, und man möchte wirklich nicht wissen, wie das einem wie ihm gelang, so stulle, wie er war.

Hej, sagte er, das sei ja ein Ding! Wie es mir denn so gehe? Wir müssten uns unbedingt mal sehen! Er maile mich an.

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An einem Sommerabend sah ich ihn wieder, Andi Pflaumenmus. Wir waren jetzt beide, wie ich gehört hatte, in Berlin, er als rechte Hand, ich als Schatten der Vergangenheit. Mit Susanne saß ich auf einer Parkbank in der Schwedter Straße, auch Susanne hatte ihren Job in der Zeitungskrise verloren, die klügste Journalistin, die Deutschland je gesehen hat, die gewitzteste Autorin, die du dir vorstellen kannst. Susanne war mitgekommen aus München nach Berlin, denn wie soll man in München ohne Job leben? Auch unser Kind in ihrem Bauch war mitgekommen. Wir saßen auf der Bank in der Schwedter Straße, mit Ausblick auf die Außentische eines Restaurants, das wir uns nicht mehr leisten konnten. Pilzpfannen. Fischgerichte. Da kam Andi Pflaumenmus vorbei. Halb hinter ihm stand so eine junge Blonde, die kaum Hallo sagte. »Hej!!!« Sagte Andi Pflaumenmus. Das sei ein Ding, wie es uns denn so gehe! Ja, man schlage sich so durch.

Ich müsse auch unbedingt mal was für ihn schreiben, sagte Andi Pflaumenmus. Und das hier sei die und die, und sie würden jetzt in eine neue, größere Wohnung ziehen, in den nächsten Wochen, da sei dann Party, da müssten wir auch kommen, er schicke mir eine Mail.

Die Mail kam natürlich nie.

Ein anderes Mal saß er mit seinen Eltern vor einem kleinen Café an der Zionskirche. »Hej!!!« Sagte Andi Pflaumenmus. Das sei ja ein Ding, wie es mir denn so gehe! Mit mildem Desinteresse sahen seine Eltern mich an, sie waren ganz auf das Baby von Andi Pflaumenmus fokussiert, und er erzählte ihnen auch nicht, dass ich der und der sei, dieser Fatz-Autor, den seine Eltern immer so gut gefunden hatten. Wir müssten uns doch unbedingt mal sehen! Er maile mich an.

Die Mail kam natürlich nie.

Einmal habe ich ihn dann noch bei so einer Deppenveranstaltung an der Volksbühne gesehen. Andi Pflaumenmus mit dem Eierkopf war mittlerweile in den Föhjetongvorstand seiner Zeitung aufgerückt, nach aktueller Geckenmode trug er eine rote Bomberjacke, und er hatte jetzt einen Adjutanten dabei. Der Adjutant lief gebückt, ein bisschen wie Gollum, er folgte ihm auf Schritt und Tritt, hielt ihm das Feuer hin, wiederholte mit grundlos ironischem Unterton, was Andi Pflaumenmus zu mir gesagt hatte. Trat zwischen uns, wenn ich Andi Pflaumenmus zu nahe zu kommen drohte.

Hallo. Na?

Neulich habe ich ihn mal an einer Ampel stehen sehen, Andi Eierkopp, auf dem Fahrrad, mit Helm drauf, um sein wertvolles rotglühendes Hirn zu schützen. Neben ihm stand ein Kollege, mit dem er sprach, aufmerksam, präsent, nett sah er aus, so wie früher. Ich stand gleich hinter den beiden, ich hoffte sehr, Andi Pflaumenmus würde sich nicht umsehen, und das tat er natürlich auch nicht.

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