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Israels Gaza-Pläne
An eine »freiwillige Ausreise« denkt keiner mehr – die Bevölkerung soll mit Internierung und Hunger vertrieben werden
Mitte März schrieb der rechte israelische Journalist Yinon Maga bei X: »Dieses Mal beabsichtigen die IDF alle Bewohner des Gazastreifens in eine neue humanitäre Zone zu evakuieren, die abgezäunt und für einen längerfristigen Aufenthalt angelegt sein wird. Jeder, der sie betritt, wird zunächst darauf überprüft, ob er ein Terrorist ist. Die IDF werden der Bevölkerung dieses Mal nicht erlauben, sich einer Evakuierung zu widersetzen. Jeder, der sich außerhalb der humanitären Zone aufhält, wird verfolgt. Dieser Plan hat amerikanische Unterstützung.«
Noch am selben Tag verkündete Verteidigungsminister Israel Katz per Videoerklärung: »Bewohner des Gazastreifens, dies ist die letzte Warnung (...) Wenn nicht alle Geiseln freigelassen werden und Hamas nicht aus Gaza verschwindet, wird Israel mit nie dagewesener Härte handeln. Hört auf den Rat des US-Präsidenten: Lasst die Geiseln frei und entfernt die Hamas – dann werden sich neue Möglichkeiten für euch eröffnen. Darunter auch eine Umsiedlung derjenigen unter euch, die das wünschen. Die Alternative ist völlige Zerstörung und Verwüstung.«
Wenige Tage später zitierte Yoav Zitun vom Nachrichtenportal Ynet den kurz zuvor entlassenen Brigadegeneral Erez Wiener: »Es stimmt mich traurig, dass ich jetzt, da sich die Kämpfe endlich in die richtige Richtung entwickeln, nicht mehr am Ruder bin«, schrieb Wiener bei Facebook. Wiener ist kein gewöhnlicher Offizier. Vor seiner Entlassung spielte er eine Schlüsselrolle bei der Planung der Gaza-Operationen. Wenn Wiener, der an der Weitergabe von Informationen an den rechtsextremen Minister Bezalel Smotrich beteiligt gewesen soll, die Ansicht äußert, die Kämpfe würden sich in die »richtige Richtung entwickeln«, kann man sich denken, was gemeint ist.
Zusammen mit den Vorbereitungen der Armee für eine vollständige Besatzung des Gazastreifens und dem Angriffsplan, der im vergangenen Monat an das Wall Street Journal durchgestochen wurde, kann man eigentlich nur zu einer Schlussfolgerung gelangen: Israel bereitet sich vor, die Bevölkerung des Gazastreifens mit Evakuierungsanweisungen und Luftangriffen in ein vermutlich eingezäuntes Gebiet zu drängen. Jeder, der außerhalb dieser Grenzen gefasst wird, kann getötet werden; die Gebäude im Rest der Enklave sollen dem Erdboden gleichgemacht werden.
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Das Alles-oder-nichts-Prinzip
Das Vorhaben dürfte auch mit der Erkenntnis zu tun haben, dass die vielzitierte »freiwillige Ausreise« der Bevölkerung unter den aktuellen Bedingungen unrealistisch ist – zum einen, weil trotz der Bombenangriffe zu wenige Menschen in Gaza bereit sind zu gehen; zum anderen, weil kein anderes Land einen so großen Zustrom palästinensicher Flüchtlinge aufnehmen wird.
Dem Historiker Dotan Halevy zufolge (Ko-Autor des Buches »Gaza: Place and Image in the Israeli Space«) würde die »freiwillige Ausreise« zudem auch nur Sinn ergeben, wenn auch tatsächlich alle Palästinenser gehen. »Spielen Sie das Szenario durch«, äußerte Halevy unlängst in einem Gespräch. »Fragen Sie Ofer Winter [den General, der als Leiter der «Abteilung für freiwillige Ausreise» des Verteidigungsministeriums gehandelt wurde], ob die Evakuierung von 30, 40 oder 50 Prozent der Bevölkerung von Gaza als Erfolg gelten würde. Macht es für Israel einen Unterschied, ob Gaza von 1,5 statt von 2,2 Millionen Palästinensern bewohnt wird? Würde das die Annexion ermöglichen, von der (der Rechtsextreme, d.Red.) Bezalel Smotrich und seine Freunde sprechen? Die Antwort laut mit großer Sicherheit: Nein.«
In Halevys Buch gibt es einen Aufsatz des Historikers Omri Shafer Raviv, der Israels Pläne zur »Förderung« palästinensischer Emigration nach dem Krieg von 1967 nachzeichnet. Der Titel »Ich würde mir wünschen, dass sie gehen« verweist auf ein Zitat des damaligen Premierministers Levi Eshkol. Der im Januar 2023 (also deutlich vor Donald Trumps »Gaza-Riviera«-Plan) veröffentlichte Text zeigt, wie tief die Idee einer Umsiedlung der Bevölkerung Gazas im israelischen strategischen Denken verankert ist. Um die Zahl der Palästinenser zu reduzieren, setzte Israel in den späten 1960er Jahren auf zwei Instrumente: Zum einen ermutigte man die Palästinenser, in die Westbank und von dort nach Jordanien zu emigrieren; zum anderen suchte man Länder in Südamerika, die bereit waren, palästinensische Flüchtlinge aufzunehmen. Während die erste Strategie einen gewissen Erfolg zeitigte, scheiterte die zweite komplett.
Bis 2023 war Israels Einschätzung, es sei besser, die Palästinenser in Gaza zu halten, wo sie überwacht werden können, als sie über die Region zu verteilen.
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Wie Shafer Raviv schreibt, schadete der Plan Israel am Ende selbst. Zwar verließen Zehntausende Gaza Richtung Jordanien, nachdem Israel die Lebensbedingungen gezielt verschlechtert hatte, doch die meisten Palästinenser blieben. Die sich verschlechternden Lebensbedingungen wiederum sorgten für Unruhe und in der weiteren Folge für bewaffneten Widerstand.
Als man dies begriff, entschied sich Israel Anfang 1969, den ökonomischen Druck auf Gaza zu verringern, indem man der Bevölkerung erlaubte, in Israel zu arbeiten. Zudem schloss Jordanien seine Grenzen, was die palästinensische Flucht weiter begrenzte. Ironischerweise beteiligten sich einige derjenigen, die Gaza infolge von Israels Politik Richtung Jordanien verlassen hatten, an der Schlacht von Karameh im März 1968 – der ersten direkten militärischen Konfrontation mit der neu gegründeten PLO, was Israels Begeisterung für eine Emigration aus Gaza weiter minderte.
Zuletzt gelangte Israels Militärführung zu der Einschätzung, es sei besser, die Palästinenser in Gaza zu halten, wo sie überwacht werden können, als sie über die Region zu verteilen. Halevy zufolge war das die israelische Linie bis Oktober 2023 und erklärt, warum Israel die Bewohner während der 17-jährigen Blockade nicht aus dem Streifen zu vertreiben versuchte. Bis zu Beginn des jüngsten Krieges war es extrem schwierig und kostspielig, Gaza zu verlassen. Nur reichen Palästinensern mit Verbindungen zu ausländischen Botschaften in Jerusalem oder Kairo stand diese Option offen.
Hindernisse für die Vertreibung
Ob Verteidigungsminister Katz und Stabschef Zamir die Aufsätze von Halevy oder Shafer Raviv nun kennen oder nicht – auch ihnen dürfte klar sein, dass die »freiwillige Ausreise« kein unmittelbar durchführbarer Plan ist. Auch wenn sie wirklich glauben sollten, das »Gaza-Problem« sei gelöst, wenn die Palästinenser aus dem Gebiet verschwinden, werden sie wissen, dass das nicht in einem Schub gelingen kann.
Sie scheinen darauf zu spekulieren: die Bevölkerung zunächst in einer oder mehreren abgezäunten Enklaven einpferchen und dann Hunger und Verzweiflung den Rest erledigen lassen. Die Eingeschlossenen werden sehen, dass sie keine Zukunft im Gazastreifen haben, und dann, so das Kalkül, selbst auf Auswanderung drängen.
Man wird sehen, ob die Militärs – oder selbst die Regierung – diesen Weg bis zum Ende zu gehen bereit ist. Mit größter Wahrscheinlichkeit wird er den Tod sämtlicher Geiseln nach sich ziehen und birgt damit gewaltige politische Gefahren. Darüber hinaus wäre man mit dem erbitterten Widerstand der Hamas konfrontiert, die der israelischen Armee nach wie vor schwere Verluste zufügen kann, wie sie in den Tagen vor dem Waffenstillstand im Norden des Gazastreifens bewiesen hat.
Andere Hindernisse für den Plan wären die Erschöpfung der Reservisten, die »stillschweigend« und öffentlich den Dienst verweigern könnten; die Proteste gegen die Versuche der Regierung, die Justiz zu schwächen, dürften diese Entwicklung noch verstärken. Zudem stoßen die Umsiedlungspläne (zumindest bislang) auf den erbitterten Widerstand Ägyptens und Jordaniens, deren Regierungen ihre Friedensabkommen mit Israel suspendieren oder aufkündigen könnten. Und schließlich ist da auch der unberechenbare Charakter Donald Trumps, der an einem Tag damit droht, der Hamas »die Tore zur Hölle zu öffnen« und am nächsten Tag Gesandte schickt, um direkt mit der Gruppe zu verhandeln, die er plötzlich als »pretty nice guys« bezeichnet.
Im Augenblick setzt die israelische Armee ihre Luftangriffe auf Gaza fort. Ihr erklärtes Ziel ist es, die Hamas zu einer Freilassung der Geiseln auch ohne Beendigung des Kriegs zu zwingen. Die Hamas jedoch, die um Israels strategische Grenzen weiß, hält an der eigenen Position fest: Für sie muss jeder Geiseldeal mit einem Ende des Kriegs verknüpft werden. Generalstabschef Zamir, der möglicherweise fürchtet, er könnte am Ende ohne Armee für eine Eroberung Gazas dastehen, ist währenddessen verdächtig still und vermeidet konkrete Aussagen.
Der Ruf nach einem Abkommen – durch die Bevölkerung Gazas, die ein Ende ihres Alptraums fordert und sich von der Hamas abwendet, und durch die israelische Gesellschaft, die erschöpft vom Krieg ist und ihre Geiseln zurückwill – wird vermutlich nicht zu einem neuen Waffenstillstand führen. Anfang April befahl die israelische Armee den Bewohnern Rafahs, sich in eine »humanitäre Zone« in Al-Mawasi zu begeben. In den israelischen Medien wurde dies als Maßnahme gegen die Hamas präsentiert, doch es könnte genauso gut der erste Schritt zur Einrichtung eines großen Internierungslagers gewesen sein.
Vielleicht glauben Regierung und Armee, dass eine »freiwillige Ausreise« der Bevölkerung Gazas Israels Verbrechen tilgen könnte – dass die Taten vergessen werden, wenn die Palästinenser anderswo eine bessere Zukunft gefunden haben. Die traurige Wahrheit ist jedoch, dass Israel bei der Umsetzung seiner Umsiedlungspläne am Ende noch größere Verbrechen begehen könnte – die Einrichtung von Internierungslagern, die systematische Zerstörung der Enklave und möglicherweise sogar die völlige Auslöschung der Bevölkerung.
Der Artikel, hier in einer gekürzten, leicht bearbeiteten Fassung, erschien im »+972 Magazine«. Das Online-Portal wurde 2010 von palästinensischen und israelischen Journalist*innen gegründet und gilt als eine der wichtigsten linken Stimmen in Israel. (Übers.: Raul Zelik)
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