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ARD-Doku »Volk in Angst«: Fakten aus der No-go-Area
Die ARD-Doku »Volk in Angst« gleicht das subjektive Sicherheitsempfinden mit der polizeilichen Kriminalstatistik ab
Sigmaringen ist ein heißes Pflaster, Tendenz sozialer Brennpunkt, eher Bronx 1975 als Baden 2025. Von außen betrachtet wirkt das Fachwerkidyll am Donaudurchbruch zwar so adrett und sauber, als herrschte ganzjährig Kehrwoche. Und weil die Arbeitslosigkeit des gleichnamigen Landkreises tief im einstelligen Bereich liegt, ginge es den Menschen hier eigentlich blendend – wären da nicht Horden Geflüchteter, die Nacht für Nacht brandschatzend durchs Städele im Ländle ziehen und es damit zur No-go-Area machen.
Das jedenfalls deuten zwei biodeutsche Einwohnerinnen an, als sie der ARD-Reporter Georg Restle unweit seiner eigenen Heimatregion für die Reportage »Volk in Angst« befragt. »Meine elfjährige Tochter kann ich doch überhaupt nicht mehr allein durch Sigmaringen laufen lassen«, behauptet eine und druckst auf Fragen nach dem Grund herum, das erkläre sich doch von selbst. Genauer: Die Erklärung liegt in zwei Kilometern Entfernung, wo sich die Erstaufnahmeeinrichtung befindet. Aus Sicht der Frau ein Ort des Schreckens. Und aus Sicht der Polizei? »Alles entspannt.«
Meint zumindest ein Beamter auf dem Gelände der Flüchtlingsunterkunft und erhält Zuspruch vom Wachleiter. »Wir hatten definitiv noch kein schwerwiegendes Delikt, wo ein Sigmaringer Bürger betroffen gewesen wäre«, berichtet Matthias Zok aus dem Berufsalltag. Gewalttaten gebe es zwar durchaus. Aber eher in der Einrichtung, also untereinander. Viele Insassen seien halt junge Männer, die auf engstem Raum zusammenleben müssen – eine Kombination, die Menschen jeder Herkunft anfällig für physischen Ärger macht. Damit wäre das Spannungsfeld von Restles Dokumentation gut umrissen.
Drei Wochen nach Veröffentlichung der Polizeilichen Kriminalstatistik (PKS) herrscht nämlich helle Aufregung im – nein, nicht ganzen Land … Aber bei denen, die aus einem »Volk in Angst« Profit schlagen – oder in den Worten des Untertitels: »Wie mit Verbrechen Politik gemacht wird«. Die Zahl schwerer Straftaten von sexueller Gewalt bis Mord und Totschlag mag nach jahrelangem Sinkflug 2024 in der Tat gestiegen sein. Daraus auf kriminellere Bürger zu schließen, oder wie die Hassprediger von AfD bis »Bild« auf kriminellere Ausländer, ist nicht zu belegen.
Weil Menschen mit Migrationsvordergrund häufiger kontrolliert und angezeigt werden als sichtbar biodeutsche, geraten sie doppelt so oft unter Tatverdacht.
Im Gegenteil. Knackige 30 Minuten lang zeigt Restles Rechercheteam die Fakten hinter den Zahlen. Zunächst mal zählt die PKS schließlich keine begangenen, sondern angenommene Vergehen. Und dann noch mal nicht nur vollendete, sondern auch versuchte. Weil Menschen mit Migrationsvordergrund häufiger kontrolliert und angezeigt werden als sichtbar biodeutsche, geraten sie doppelt so oft unter Tatverdacht, wie es ihrem Bevölkerungsanteil entspräche. Da sich zudem fast zwei Drittel aller Tötungs- und sogar drei Viertel der Sexualdelikte im »sozialen Nahfeld« ereignen, also im Bekanntenkreis, beklagt der Freiburger Kriminologe Dietrich Oberwittler »systematische Verzerrungen«.
Und mit denen gehen (rechte) Demagogen dann gezielt auf Quoten-, Klick- und Wählerfang. Das gilt somit auch für jene 764 Gewalttaten, die voriges Jahr am Dortmunder Hauptbahnhof gezählt wurden und ihn zu einem der angeblich »gefährlichsten Orte Deutschlands« machen. Was von der Boulevardpresse bewusst unterschlagen wird, muss eine Mitarbeiterin der Bahnhofsmission daher kurz geraderücken: Betroffene körperlicher Übergriffe seien nämlich keinesfalls Reisende und Passanten, sondern Drogenkonsumenten und Obdachlose, nicht selten also Täter und Opfer in Personalunion.
Besonders die Gewaltkriminalität, weiß der Kriminologe Hans-Jörg Albrecht aus jahrzehntelanger Forschungsarbeit, bleibe nämlich »meistens innerhalb sozialer Gruppen«. Junge attackieren Junge, Süchtige attackieren Süchtige, Geflüchtete attackieren Geflüchtete. Alles belegt. Nur – manipulationsanfällige Mediennutzer erfahren davon wenig. Während das subjektive Sicherheitsgefühl der Deutschen seit Jahren steigt, zeichnen Paranoia-Medien und ihre politischen Abnehmer ein Bild kollektiver Unsicherheit. Besonders bei Kapitalverbrechen werde Albrecht zufolge daher »von erheblichen Zunahmen ausgegangen, die mit der Polizeilichen Kriminalstatistik nicht in Einklang zu bringen sind«. Darauf hinzuweisen, ist ein großes, wenngleich leicht reißerisch inszeniertes Verdienst von Georg Restles Dokumentation.
Zu dumm, dass all jene, die ihre Informationen bloß noch aus der eigenen, nicht selten verschwörungsideologischen Bubble beziehen, davon nur wenig mitkriegen. Wobei selbst seriöse Medien wie die »Tagesschau« mitunter dem Zeitgeist statt ihrem Wertekompass folgen. Stammt ein Amokfahrer aus Deutschland statt aus Nahost, halbiert sich da schnell der Berichtsumfang. Und heizt die Verzerrungen der PKS weiter an.
Verfügbar in der ARD-Mediathek.
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