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»Deutliche HIV-Zunahme in Asien und Osteuropa«
UNO meldet globale Erfolge, doch die sind regional begrenzt / Fortschritte bei der Entwicklung neuer Medikamente
Der Immunologe Jürgen Rockstroh von der Universität Bonn sieht keinen Anlass zu Entwarnung. »Die Ausbreitung schreitet fort«, betont der Präsident der Deutschen Aidsgesellschaft. Die neuen UNAIDS-Daten bestätigen dies: 2,5 Millionen Menschen steckten sich im Jahr 2007 mit dem HI-Virus an. Zwar sind inzwischen große Hilfsprojekte angelaufen, die die Patienten mit antiviralen Medikamenten versorgen sollen. »Aber längst nicht alle Betroffenen bekommen eine Therapie«, beklagt Rockstroh. Die Bemühungen müssten verstärkt werden, fordert der Mediziner.
Für Ernüchterung unter Experten sorgte kürzlich der Abbruch zweier großer Impfstudien. Der Grund: Die Vakzine schützten die Teilnehmer nicht. Mit Sorge blickt Rockstroh nach Osten: »Wir sehen eine deutliche HIV-Zunahme in Asien und Osteuropa.« Dort stieg die Zahl der Infizierten laut UNAIDS seit 2001 um über 150 Prozent. Erschwert wird die Prävention in vielen Ländern dem Mediziner zufolge dadurch, dass Themen wie Homosexualität oder intravenöser Drogengebrauch, die bei der Ausbreitung eine Rolle spielen, nicht offen angesprochen werden. »Wenn es Tabus in einer Gesellschaft gibt, ist eine effektive Prävention schwierig«, sagt er.
Noch eine weitere Entwicklung beunruhigt Experten. Neben HIV breitet sich in vielen Ländern Tuberkulose (TB) stark aus, darunter Erregertypen, die gegen viele Medikamente resistent sind. Zwar kann ein intaktes Immunsystem die Bakterien unter Kontrolle halten, die Krankheit bricht nur bei einem von zehn Infizierten aus. Anders aber bei HIV: Neun von zehn HIV-Infizierten, die sich mit TB anstecken, sterben ohne angemessene Therapie binnen Monaten. »Im Gegensatz zur Vogelgrippe ist die weltweite Bedrohung durch HIV/TB nicht hypothetisch«, sagt Veronica Miller, Leiterin der Organisation Forum for Collaborative HIV Research. »Sie passiert jetzt hier.«
Fortschritte macht unterdessen die Entwicklung neuer Medikamente. Im Oktober kamen gleich zwei neue Wirkstoffklassen auf den Markt. In Deutschland erschien mit Maraviroc der erste CCR5-Hemmer. Dieses Mittel hemmt diejenigen Viren, die über den Korezeptor CCR5 in die Zelle eindringen, um sich dort zu vermehren. Fast zeitgleich wurde in den USA mit dem Wirkstoff Raltegravir der erste Integrase-Hemmer zugelassen. Der Wirkstoff bindet an das Virusenzym Integrase, mit dem der Erreger sein Erbgut in die Wirtszelle schleust. Integrase war das einzige HIV-Enzym, für das es noch keinen Hemmstoff gab. »Beide Präparate bereichern mit den neuen Wirkmechanismen das Arsenal der Therapie«, sagt Christian Hoffmann vom Infektionsmedizinischen Centrum Hamburg. Dies gilt laut Norbert Brockmeyer von der Universitätsklinik Bochum insbesondere für Patienten mit Erregern, denen die bisherigen Mittel nichts anhaben können. »Die neuen Medikamente wirken auch auf Viren, die gegen andere Medikamente resistent sind«, sagt er. Überdies deuten die Zulassungsstudien darauf hin, dass die Präparate gut verträglich sind. Allerdings mahnen Brockmeyer wie Hoffmann vor verfrühter Euphorie: Denn welche Nebenwirkungen ein Medikament verursacht, zeigt sich im medizinischen Alltag oft erst nach Jahren.
Zahlen und Fakten: Kein Durchbruch gegen Aids
Die Nachricht bot nur auf den ersten Blick Grund zur Hoffnung: Die Zahl der HIV-infizierten Menschen sei von 39,5 Millionen im Jahr 2006 auf 33,2 Millionen im Jahr 2007 gesunken, verkündete Kevin de Cock. Aber der deutliche Rückgang, so fügte der Leiter von UNAIDS hinzu, beruhe nicht auf dem ersehnten Durchbruch im Kampf gegen das Virus, sondern auf einer Korrektur früherer, überhöhter Schätzungen.
2,1 Millionen Infizierte starben 2007 an der Immunschwäche Aids. Am beunruhigendsten ist die Situation in Afrika südlich der Sahara: Dort leben rund zwei Drittel der HIV-Infizierten, und Aids ist die Haupttodesursache.
In Deutschland leben nach Angaben des Robert-Koch-Instituts (RKI) schätzungsweise 59 000 Menschen in Deutschland mit HIV/Aids. 504 Menschen starben in Deutschland 2006 an Aids.
Seit dem Jahr 2000 steigt die Zahl der neu diagnostizierten HIV-Infektionen kontinuierlich. 2007 wurde das Virus nach Schätzung des RKI bei rund 3000 Menschen neu festgestellt. Norbert Brockmeyer von der Universitätsklinik Bochum macht für die Zunahme Kürzungen der Bundesmittel mitverantwortlich. »Wir haben die Präventionsanstrengungen seit 1995 verringert«, sagt der Sprecher des Kompetenznetzes HIV/Aids und beklagt eine »Tendenz des Zurücklehnens«.
Osamah Hamouda vom Robert-Koch-Institut (RKI) bewertet die Entwicklung anders: »Die Daten sagen aus, dass die Zahl der festgestellten HIV-Infektionen steigt, aber nicht, wann die Infektionen erfolgt sind.« Ein Teil der Zunahme gehe möglicherweise darauf zurück, dass sich mehr Menschen testen lassen, vermutet Hamouda. Gleichzeitig vernachlässigen insbesondere Personen aus Risikogruppen Schutzvorkehrungen wie etwa Kondome. WW
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