Gesamtdeutscher Stehkreis

Der Performer Massimo Furlan und das Sparwasser-Tor beim Festival »Theater der Welt«

  • Tom Mustroph
  • Lesedauer: 3 Min.

Die Macher des Festivals »Theater der Welt« sind mutig. Sie haben den Systemvergleich gewagt. Mit dem Stück »22. Juni 1974, 21 Uhr 03« haben sie während der Europameisterschaft den König Fußball herausgefordert. Was die schiere Masse an Zuschauern angeht, haben sie klar verloren. Lediglich die Ehrentribüne des Hallenser Kurt-Wabbel-Stadions war gefüllt, als der Schweizer Performer Massimo Furlan die Wege von Jürgen Sparwasser abgelaufen hatte, die jener während der berühmten 90 Minuten im Volksparkstadion zu Hamburg zurückgelegt hatte. Der Magdeburger Stürmer, damals 26 Jahre jung, hatte während der WM 1974 für das sensationelle 1:0 der DDR gegen die favorisierte BRD-Truppe gesorgt, die später Weltmeister geworden war.

Das Zeit-Spiel begann bereits bei Betreten des Stadions. Die Spielstätte des Viertligisten HFC (gerade in die Regionalliga aufgestiegen) korrespondierte kaum mit den TV-Erinnerungsbildern an die Hamburger Arena. 24 000 Plätze statt 65 000 sowie Sponsorenlogos der Stadtwerke Halle oder des Autobasars Delitzscher Straße markierten die große Kluft zwischen Fußball-Weltereignis und ostdeutscher Provinzkickerei. Verbunden wurden die entfernten Planeten nur durch die Aufschrift »DDR BRD« auf der Anzeigetafel – und den Schriftzug der Firma Jägermeister; die Schnapsbrennerei hatte 1973 als erster Trikotsponsor in der Bundesliga eine Zeitenwende in der Vermarktung eingeläutet.

Furlans Retrotrip führte zu neckischen Begebenheiten wie dem szenischen Anschluss der BRD an die DDR: Zuerst hatte das Jugendblasorchester Halle die Hymne der DDR intoniert. Einige Zuschauer, DDR-Devotionalien schwenkend, waren aufgestanden und hatten der Eisler-Hymne die Ehre erwiesen. Als kurz darauf die bundesdeutsche Hymne ertönte, blieben sie stehen. Dazu gesellten sich weitere Personen. Der Kreis der DDR-Steher wurde durch den der Alt-BRD-Steher zu einem gesamtdeutschen Stehkreis erweitert.

Die stärksten Momente hatte die Aufführung dem doppelten Radiokommentar zu verdanken. Auf kleinen Radioempfängern konnten die Besucher zwischen Heribert Fassbenders West-Fassung und Wolfgang Hempels östlicher Version hin und herpendeln. Es gab Gemeinsamkeiten, gewiss. Die Namen der ballführenden Spieler wurden manchmal auf den Atemzug genau genannt. Auch Termini wie »Ecke«, »Flanke«, »Angriff« oder »Foul« fielen manchmal zum selben Zeitpunkt. Doch häufig wurden die Aktionen verzögert geschildert. Während bei Fassbender die Flanke schon in der Luft war, setzte sich bei Hempel erst noch ein Spieler auf der Außenbahn durch. Wenn bei Hempel hingegen der Ball per Einwurf dem Spiel bereits wieder zurückgegeben war, hielt Fassbender sich noch bei der vorhergehenden Szene auf. Der Radiokommentar – und mit ihnen die geteilte Zuhörerschaft – war einer Wellenbewegung der Zeit ausgesetzt; mal näher dran am Ursprungsereignis, mal weiter weg.

Systemvorteile kristallisierten sich bei einmaligem Parallelhören nicht heraus. Auch fand der Kalte Krieg zumindest in diesen 90 Radiominuten auf diesen beiden Kanälen nicht statt. Die Kommentare waren ausgesprochen sachlich und bar jeder politischen Polemik. Unterschiedliche Realitäten wurden dennoch konstruiert. Gerade als ein heftiger Regenschauer über Halle hernieder ging, erwähnte der DDR-Kommentator »den Sonnenschein im Stadion« – und erinnerte den heutigen Zuhörer an allfällige Beschönigungstendenzen in der real existierenden sozialistischen Medienwelt. Fassbender wiederum war ein echter Fehler unterlaufen. Er hatte die gelbe Karte, die Sparwasser in der ersten Halbzeit erhalten hatte, einem anderen Spieler zugeschrieben. Sparwasser, beim Remake in Halle anwesend, versuchte sich an einer verbalen Ereigniskorrektur, indem er die FIFA aufforderte, die nach seiner Meinung unberechtigt erteilte Verwarnung zurückzunehmen.

Eine ganz klare Realitätsspaltung war am Ende der Übertragung zu konstatieren: Während im DDR-Rundfunk davon die Rede war, dass das gesamte Stadion die Mannschft mit »Hoch solln sie leben« feierte, war auf der Westfrequenz jedes Wort verstummt und an dessen Stelle nur ein gellendes Pfeifkonzert zu vernehmen. Aber genau diese Differenz in der Ereignisübermittlung machte Furlans Performance so einzigartig.

»Theater der Welt« wird bis zum 6. Juli in Halle fortgesetzt. Die Fußballperformance war jedoch eine einmalige Vorstellung.

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