Die Gewalttätigkeit des Wirklichen
Ein Ereignis: Die Londoner Francis-Bacon-Retrospektive
Er gehört zu den bedeutendsten gegenständlichen Malern des 20. Jahrhunderts. Zu seinem 100. Geburtstag im kommenden Jahr widmet ihm Tate Britain in London, das weltweit größte Museum britischer Kunst, eine beeindruckende Retrospektive mit 65 aus der ganzen Welt zusammengetragenen Gemälden aller Schaffensperioden, darunter allein 13 großen Triptychen. Es ist die bisher größte Bacon-Schau in Großbritannien, die anschließend auch im Prado Madrid und im Metropolitan Museum of Art New York gezeigt wird. Sie soll auf der Grundlage neuester Forschungserkenntnisse zu den Quellen, den Entwicklungen und den Gedanken des Künstlers hinführen.
Kein Künstler hat die Ängste seiner Epoche in der menschlichen Gestalt so zwingend dargestellt wie Bacon. Den klassischen Akt hat er verworfen. Der Mensch wird stattdessen zum zweibeinigen Tier, das abhängig ist von seinen Süchten: nach Sex, Rauschgift, Geborgenheit oder Macht. In den meisten Gemälden stellt der 1992 gestorbene Bacon lebende Personen, allerdings ohne psychologische Dimension, in ihrer materiellen wie sozialen Existenz, oder einfache Gebrauchsgegenstände – Versatzstücke – dar. Es sind allerdings keine fotografischen Abbildungen, sondern Bilder spannungsvoller Vieldeutigkeit, Farb- und Formereignisse, die ein starkes Eigenleben führen. Alle moralischen Bezüge sind aus seiner Bilderwelt entfernt. Stattdessen erreicht sie eine gewisse Einheitlichkeit durch die verwischte Dokumentarkraft bestimmter Schlüsselbilder, die er gewissermaßen dem Magazin des 20. Jahrhunderts entnommen und konträr zusammengestellt hat.
Eines dieser Schlüsselbilder stammt aus Eisensteins »Panzerkreuzer Potemkin« und zeigt in Nahaufnahme das von Säbelhieben gezeichnete, angstverzerrte Gesicht einer laut schreienden Kinderfrau mit herabgerutschter Brille. Bacon kombinierte dieses Bild mit Velazquez’ Porträt von Papst Innozenz X., diesem wunderbaren Abbild lauernder Macht, und heraus kam das bekannte Bild vom »schreienden Papst« (»Studie nach dem Velazquez-Porträt von Papst Innozenz X.«, 1953). Er hat dieses Papst-Motiv in den nächsten 14 Jahren immer aufs Neue wiederholt. Ein letztes Mal, 1971, fügte er ein Fenster in das Gemälde ein, durch das sich der Papst einer Erscheinung der Gegenwart konfrontiert sieht. Oder können wir dieses Fenster auch als Spiegel lesen, der das Bild des Papstes auf sich selbst zurückwirft?
Bacon verschmähte Material aus »naiven« Quellen, übernahm aber mit Vorliebe Bilder aus didaktischen Vorlagen und zerstörte oder verwischte dabei ihre Absichten und Anliegen. Sein Studio war angefüllt mit Fotos, Ausschnitten aus Magazinen und illustrierten Büchern, an die Wand gepinnt, auf dem Boden liegend oder mit Farb-resten, leeren Tuben, eingetrockneten Pinseln, schmutzigen Lappen und anderem Abfall zu einer Art »Komposthaufen« verbunden, von dem er erwartete, dass dieser ständig neue Bilder ausbrütete. Alle Lebensspuren hat er sorgfältig konserviert. Es ging ihm um Distanz und Konfrontation, die es ihm ermöglicht, seine unappetitlichen oder grausamen Themen zu bewältigen, es ging ihm um die klinische Betrachtung des menschlichen Körpers als Objekt ohne jede Intimsphäre. Bacon glaubte etwas Gemeinsames in den verschiedenen Nutzungsarten des Körpers zu sehen: Man konnte den Körper untersuchen, zum Sex gebrauchen oder politischen Zwängen unterwerfen. In allen Fällen handelt es sich um Formen der Selbstaufgabe, der Überantwortung, bei denen der Körper nur noch als Objekt fungiert. Daher auch Bacons Vorliebe für Umgebungen, die an Willenlosigkeit erinnern: schmutzige Wände, die vielleicht zu einer Gefängniszelle gehören, Bettgestelle und Stühle, die sich in Gitter verwandelt haben, Haufen medizinisch aussehender Röhrchen. Die geschlossenen Räume und die nicht zu identifizierenden Möbel aus hässlichem Material und in hässlichen Farben, alles von einer einzigen nackten Glühbirne beleuchtet, imaginieren eine Sphäre der Gewalttätigkeit. Hier wird Gewalt – auch Sex - zum tierischen Ringen, und alle Gefühle werden zu Wutausbrüchen mit darauf folgendem Katzenjammer.
»Drei Studien für eine Kreuzigung« (1944) ist die früheste Arbeit in der Ausstellung. Der Künstler ging von einem Foto aus, auf dem Hitler bei einem Nürnberger Parteitag aus seinem Auto steigt. Aber Bacon setzte an die Stelle Hitlers eine zumindest ebenso ekelerregende Kreatur, die ihren langen, reptilienhaften Körper aus dem Autofenster streckt und zähnefletschend auf die Erde herunterhängen lässt. Die Form des Triptychons gab ihm die Möglichkeit, drei Schreckensbilder in einer Arbeit zu vereinen. Die Figur auf der linken Seite scheint sich aus ihrem Zwinger befreien zu wollen, kann sich aber nicht bewegen. Dieselbe Lähmung hat das Monstrum auf der rechten Seite befallen, das seinen ausgestreckten Hals kaum noch ausstrecken und nur ein hilfloses Stöhnen hervorbringen kann. Das zentrale Bild vermittelt noch unendlich viel weniger Trost als ein Leidender an einem Kreuz. Anstelle eines Christus, der trotz allen Leids Verheißung bedeutet, fletscht uns hier eine Bestie brutal an. Dieses Wesen könnte sich gebärden wie ein wütender Hund, aber es könnte auch im Todeskampf stöhnen – denn seine Augen sind ausgestochen. Diese doppelte Auslegung ist von Bacon beabsichtigt, denn er weiß, dass ein Schrei ebenso Aggression wie Schmerz oder auch höhnisches Gelächter bedeuten kann. Bacon: »Es ist allein der Schrei, der zählt«. Die drei griechischen Furien – so hat er sie einmal genannt – schreien ihr Elend und ihre Wut hinaus, sie sind Zeugnis von Bacons eigenem Leiden in einer Zeit, die ihm verbot, eine Kreuzigung im Sinne der herkömmlichen Tradition zu malen.
Die drei Tafeln des Triptychons »Kreuzigung« von 1965 dagegen bilden einen einheitlichen, zusammenhängenden Raum, der den Charakter eines Museums hat. Zwei Besucher schauen gelangweilt auf die Kreuzigungsskulptur im Mittelbild. Flankiert wird die Kreuzigung von zwei formlosen blutigen Schergen mit Hakenkreuzarmbinde auf den Seitentafeln – irgendwann wird auch hier die Schlachthausbrutalität durchbrechen und den neutralen Ort der Beschaulichkeit verwandeln.
In der Mitteltafel des Triptychons vom August 1972 erscheinen die ineinander verknäuelten Körper eines Paares nicht nur als Liebes- und Gewaltakt, sondern als ein Kampf auf Leben und Tod, den die beiden Zeugen dieser Szene nicht wahrzunehmen scheinen: Die sitzende Figur rechts hat ihr den Rücken zugewandt, die linke Figur hält die Augen geschlossen. Beide Figuren sind nur als Torsi präsent, die schwarzen Schatten der offenen Tür haben sie eingeholt, das auslaufende Leben klebt auf dem Boden des Bildes. Bacon hat die Empfindung des Todes, des Todes des Freundes George Dyer, der auch der Tod irgendeines anonymen Zeitgenossen sein könnte, ins kaum noch Erträgliche gesteigert.
Immer wieder hat Bacon das Motiv der Verzerrung – im eigentlichen Sinne sind seine Bilder Zerrspiegelbilder – zur Aufschlüsselung hingenommener Tatbestände eingesetzt. Seine Ringer, die er ihren Kampf auf blutbeflecktem Laken austragen lässt, enthüllen in ihren Verrenkungen und im Sich-selbst-Zerfleischen die masochistische Untiefe der idolisierten Massenvorstellungen der Sportplätze. Manchmal handelt es sich »nur« um einen Hund, der spazieren geht, begleitet vom Schatten seines Herrn (»Mann mit Hund«, 1953), eine Frau, die am Rande des Bürgersteigs steht, mit einem um die Ecke kurvenden Auto im Hintergrund (»Portrait von Isabel Rawsthorne in einer Straße von Soho«, 1967), einen Mann, der in einem schlecht beleuchteten Treppenhaus steht (auf der Mitteltafel eines Triptychons von 1971, es ist der tragisch ums Leben gekommene Freund George Dyer) – aber immer ist es eine verblüffende Vergegenwärtigung, die die ganze »Gewalttätigkeit des Wirklichen« offenbart und die er durch die »Gewalttätigkeit der Farbmaterie« zum Ausdruck bringen will.
Bacon hat mit den Mitteln der bildenden Kunst und auf der Höhe unserer Zeit Grenzsituationen sichtbar gemacht, deren Radikalität uns durch die große Fülle lang vertrauter Formulierungen verloren zu gehen drohte. Vielleicht könnte dieser Maler aus Obsession wirklich als ein Goya der modernen Geschichte bezeichnet werden, der letzte Maler tragischer Gestalten, der von wahren Ereignissen im menschlichen Leben zu berichten weiß, die die Kamera eben nicht erfassen kann.
Francis Bacon. Tate Britain, Millbank, London, SW1P 4RG, bis 4. Januar 2009. Katalog. Weitere Stationen: Museo Nacional Del Prado, Madrid, 3. Februar bis 19. April 09, Metropolitan Museum, New York, 18. Mai bis 16. August 09:
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