»Geld regiert. Sonst nüscht«
20 Jahre deutsche Einheit – eine Gesprächsrunde in Neuhardenberg fragte nach der Bilanz
Vor zwei Jahrzehnten wurde die staatliche Einheit Deutschlands wieder hergestellt. Die Ostdeutschen haben den Beitritt ins Hoheitsgebiet des Grundgesetzes teuer erkauft; mit Industriebrachen, der Verschleuderung des Volksvermögens durch die Treuhand, mit dem Wegfall von Arbeitsplätzen und Enteignungen infolge der Maxime »Rückgabe vor Entschädigung«.
Wo liegen die Ursachen dafür, dass es in Deutschland keine Vereinigung unter Partnern auf Augenhöhe gab? Und warum kommt Ostdeutschland trotz der Solidarpakt-Milliarden nicht auf die Beine? Liegt hier etwa gar ein Verrat vor?
Das suggeriert das Motto »Verratenes Volk?« einer Gesprächsrunde, die am Samstag im Schloss Neuhardenberg stattfand. Gerade dieser Ort inspiriert zu solchen Reflexionen, hieß er doch früher Marxwalde, die Karl-Marx-Allee gibt es noch. Man sieht hier blühende Landschaften aus Kirschbäumen und Schlehen, kaum jedoch Wirtschaftsbetriebe.
Inforadio-Redakteur Harald Asel diskutierte die aufgeworfene Frage mit Egon Bahr, Lothar de Maizière, Edgar Most und Ernst Schumacher. Die Zusammensetzung der Runde ist wohltuend ausgewogen gewesen; drei der vier Teilnehmer haben lange Zeit in der DDR gelebt.
Egon Bahr, einst unter Willy Brandt »Architekt der Ostverträge«, vertrat auf dem Podium die »Wessi«-Minderheit. 1990 war er Berater des DDR-Verteidigungsministers Rainer Eppelmann. Heute räumt der 87-Jährige ein, im Zuge des Beitritts seien »schreckliche Fehler« begangen worden. Die Folge: Bis heute sei die innere Einheit nicht erreicht. Von einem Verrat möchte Bahr jedoch nicht sprechen.
Das sieht Edgar Most, der einstige Vizepräsident der DDR-Staatsbank und Berater der Bundesregierung in Sachen Währungsunion, anders. Der ebenso hemdsärmlige wie scharfsinnige Banker stellte in seinem bodenständigen Thüringerisch gleich einen doppelten Verrat an der DDR-Bevölkerung fest: Einerseits brachte allein sie die Reparationen für den verlorenen Weltkrieg auf, während die Westzonen mit dem Marshallplan aufgepäppelt wurden. Und zweitens: 1990 fühlten sich viele Menschen erneut verraten, weil ihre Fähigkeiten und Erfahrungen auf dem Arbeitsmarkt nicht mehr gefragt waren.
Der Theaterwissenschaftler Ernst Schumacher, ausgewiesener Brecht-Kenner, der 1961 aus seiner bayerischen Heimat in die DDR gezogen war, ergänzt: »Die Menschen in der DDR verrieten sich auch selbst, indem sie die Ideen des Sozialismus zu schnell und bereitwillig preisgaben.«
Lothar de Maizière, der letzte Ministerpräsident der DDR, will von solchen Diskussionen wenig wissen. Die Vorgänge des Beitrittsprozesses seien »irreparabel«; es sei nutzlos, sich nun darüber zu unterhalten. Der CDU-Politiker ist der Ansicht, man habe mit dem Beitritt der DDR zur Bundesrepublik »Normalität hergestellt«. Warum aber ist ein Beitritt normal, nicht jedoch eine Vereinigung zweier Staaten? De Maizière flüchtete sich in ein fatalistisch anmutendes »Es ging nicht anders« und vertritt nun die kapitalistische Leistungsideologie: »Jeder muss seine Probleme selbst angehen.« Kennt man das nicht aus dem Bankwesen? Die Ursachen gesellschaftlicher Veränderungen werden verschleiert, mit den Folgen darf sich dann der Einzelne rumschlagen.
In der gegenwärtigen Finanzkrise sieht de Maizière die Chance einer »ersten gemeinsamen Krisenbewältigungserfahrung von Ost und West«. Eine schöne Idee, jedoch ist es mit der Gemeinsamkeit nicht weit her. Edgar Most wies darauf hin, dass in den Beraterkreisen der Politiker »keine Mittelständler, keine einfachen Leute und auch keine Ossis« vertreten seien. Dabei könnten gerade Ostdeutsche wertvolle Erfahrungen beisteuern, hätten sie doch den Zusammenbruch eines Wirtschaftssystems bereits erlebt. »Ich habe das alles schon mal hinter mir, in kleinerem Maßstab«, sagte Most.
Dass der schrankenlose Neoliberalismus ausgedient habe, darüber war man sich auf dem Podium einig. Der Theaterwissenschaftler Ernst Schumacher meinte: »Ohne einige Elemente des Sozialismus, etwa die Verstaatlichung bestimmter Wirtschaftszweige, kann es auf Dauer auch keinen Kapitalismus geben.« Bleibt das aus, so befürchtet er, eines Tages möglicherweise in einer Diskussionsrunde mit dem Titel »Verratene Menschheit« zu sitzen. Edgar Most plädierte für Regulierungen auf dem Finanzsektor, denn »Kapital regiert die Welt. Sonst nüscht.«
Eine Chance der gegenwärtigen Krise liegt wohl darin, dass Alternativen zum Status quo wieder diskussionswürdig und nicht sogleich als gescheitert oder utopisch abgetan werden. Nur zeigen die Regierungsparteien im Superwahljahr wenig Neigung zu solchen Überlegungen. Es ist doch viel einfacher, unablässig auf den »Unrechtsstaat DDR« einzuschlagen und mit landläufig unintelligenten »Rote Socken«-Kampagnen von der eigenen Verantwortung für die Folgen neoliberaler Regierungspolitik abzulenken.
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