Der zweite Mord an Benno Ohnesorg
Aktenfund: Polizist Kurras war Mitarbeiter des MfS / Nicht nur Springer-Medien sehen propagandistischen Nutzwert
Die Fakten: Die DDR-Staatssicherheit hatte von 1955 bis Mitte 1967 einen inoffiziellen Mitarbeiter bei der Kripo in Westberlin. Sein Name: Karl-Heinz Kurras. Er war im letzten Rang Kriminalobermeister – das ist die mittlere Karrierestufe im mittleren Polizeivollzugsdienst – und arbeitete in einer Sonderermittlungsgruppe beim Westberliner Staatsschutz. Sein Auftrag für das MfS war, Informationen darüber zu liefern, was der Staatsschutz im Westen über Agenten aus dem Osten wusste. Seit 1965 war Kurras außerdem geheimes Mitglied der SED. Nach dem 2. Juni 1967 ging sein Name durch die Medien: Kurras war jener Polizist, der den Studenten Benno Ohnesorg bei Protesten gegen den Schah-Besuch in Westberlin erschoss.
Damit war er offenkundig für das MfS »verbrannt«, er wurde abgeschaltet. Ein späterer Versuch von ihm, 1976, erneut Kontakt zum MfS aufzunehmen, wohl vor allem wegen Geldschwierigkeiten, scheiterte. Das MfS hielt in einer Aktennotiz fest, dass er »kein Mitleid in irgendeiner Form« habe. Die Erschießung von Ohnesorg durch Kurras galt seinem Führungsoffizier als »bedauerlicher Unglücksfall«.
So berichten es zwei Wissenschaftler der Birthler-Behörde, Helmut Müller-Enbergs und Carola Jabs, aufgrund eines neuen Aktenfunds. Dass das MfS etwas mit dem Einsatz von Kurras und dem von ihm abgegebenen Todesschuss am 2.6.1967 zu tun habe, gar einen Auftrag dazu erteilt hätte, darüber gibt es laut Recherche der beiden Wissenschaftler keinen Hinweis.
Der Aktenfund belegt: Das MfS bediente sich durchaus zwielichtiger Personen, um irgendeinen Vorteil im beidseitigen Spionagewettkampf zu erzielen. Kurras war in seinem Umfeld als Waffennarr bekannt. Das MfS wertete seine »besondere Neigung zum Schießsport« als »charakterliche Schwäche«, die jedoch nicht hinderte, ihn als Agenten zu verpflichten. Der Fall bezeugt also einiges über die geringen moralischen Skrupel, die im MfS (wie auch bei anderen Geheimdiensten) zumal im Kalten Krieg und an dessen zeitweise heißester Front mitten in Berlin herrschten. Es ist eine Facette mehr in einer Geschichte, deren wesentlicher Inhalt und Verlauf nicht neu sind.
An dieser Stelle könnte diese Nachricht enden. Aber die Angelegenheit hat noch einen anderen Dreh. Das ZDF konnte am Donnerstagabend, die FAZ Freitagfrüh exklusiv über die Enthüllung berichten. Es war für sie die Topmeldung. Und seitdem rauscht es so gehörig in den Medien, dass man schier glaubt, hier sollte Zuschauern, Zuhörern und Lesern jeglicher Verstand ausgetrieben werden.
ZDF-Chef Nikolaus Brender verspricht: »Das ZDF wird die Konsequenzen dieses virulenten Moments der deutschen Nachkriegsgeschichte weiter erforschen und recherchieren.« Steffen Seibert, Moderator des »heute-journals«, debattierte mit einem früheren Frankfurter AStA-Chef aus dem Umfeld der damaligen Spontis die »hypothetischen« Fragen: Hätte es den Studentenprotest so gegeben, wenn Kurras' Bande zur DDR bekannt gewesen wären? Gab es gar ein Interesse der DDR, die Verhältnisse in Westberlin mit Kurras' Tat zu radikalisieren? Auch spiegel-online spricht von einer »überraschenden Wendung« und mutmaßt einhellig mit dem ansonsten seriösen RBB-inforadio, dass die Ereignisse von und seit 1967 / 68 nun »in neuem Licht« erschienen.
In welchem denn? Benno Ohnesorg wurde bei einem mit äußerster Härte geführten Polizeieinsatz erschossen. Polizeipräsident Erich Duensing gab seinen Uniformierten den Befehl zu einer von ihm so genannten »Leberwurst-Taktik«, sie sollten in die Demonstration »in die Mitte hineinstechen, damit sie an den Enden auseinanderplatzt«. Kurras wurde hernach »Notwehr« attestiert, der Senat wie die Springer-Presse schob die Schuld den Studenten zu. Die Berliner Morgenpost damals: »Benno Ohnesorg ist nicht der Märtyrer der FU-Chinesen, sondern ihr Opfer.« Nun titelt die Bild-Zeitung: »Stasi-Spion erschoss Benno Ohnesorg!«
Nein, den Todesschuss gab ein deutscher Polizeibeamter ab, der sich jeglichen Schutzes seiner Vorgesetzten wie der Radaublätter sicher sein konnte. Oder waren der Polizeipräsident, der Innensenator, der Regierende Bürgermeister, die Redakteure bei Springer, die »Jubelperser« und alle anderen Akteure des Anti-Protest-Wahns auch dem MfS verpflichtet? Die Geschichte müsste dann tatsächlich neu geschrieben werden – nicht die der Studentenbewegung, aber die der Herrschenden. Seite 2
Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.
Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.
Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.
Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.