Junker Joe

Nach über einem halben Jahrhundert sind die alten und neuen Gutsbesitzer wieder in Mecklenburg-Vorpommern. Die von Levetzows fühlen sich aufgenommen

  • Christina Matte
  • Lesedauer: 11 Min.
Vor mir liegt ein Bildband von Bernd Lasdin. Es ist der dritte, den der Fotograf aus Neubrandenburg vorlegte, und heißt »Die Rückkehr der Familien«. Lasdin hat sie porträtiert, die alten und neuen Gutsbesitzer in Mecklenburg-Vorpommern. Er fotografierte sie in ihren Häusern - in Herrenhäusern oder Schlössern, soweit sie erhalten blieben -, an einem Platz, den sie selbst wählten. Nach dem ersten Durchblättern war ein Eindruck überwältigend: ihre Realität. Eine Facette der Wirklichkeit, die im Osten vergessen schien, aber nun wieder dazu gehört. Später dachte ich, dies sei womöglich der einzige gemeinsame Nenner, auf den die Familien sich bringen ließen. Denn Pose und Gestus offenbaren: Verschiedener können sie kaum sein - die Bilder spiegeln Erwartung, Hoffnung, Anspruch, Triumph, Unsicherheit, Anstrengung, Enttäuschung, Zufriedenheit. Weshalb ich mich letztlich entschied, gerade die von Levetzows um eine Begegnung zu bitten, kann ich nur ungenau erklären: uralter Mecklenburger Adel, Ulrike, Goethes letzte Liebe, und das Foto von Lasdin ohne Ahnenporträts und Jagdtrophäen - all das spielte eine Rolle. Eines war mir aber schon klar: Wenn ich über die von Levetzows schriebe, würden es nicht die Familien sein, über die ich erzählen könnte, es wäre lediglich eine von ihnen. Rückkehr nach einem halben Jahrhundert ist Rückkehr an einen anderen Ort. Und diejenigen, die zurückkehren, sind anders als die, die ihn verließen. Baronin Helene von Levetzow war 34 Jahre alt, als sie mit fünf Kindern und zwei Koffern aus dem Luxus ins Nichts stürzte. Von der Bodenreform enteignet, ließ sie einen Besitz zurück, der sich seit 1224 ununterbrochen in der Hand derer von Levetzow befand - ein Schloss, gelegen in einem Park von 27000 Quadratmetern, sowie 1600 Hektar, davon 800 Hektar Wald und 800 Hektar Ackerland. Sie wurde aus Lelkendorf ausgewiesen und nach Thüringen gebracht: vier Tage und Nächte im Viehwaggon, ohne Wasser und Verpflegung. Man bot ihr eine Siedlerstelle: vier Hektar gerodeten Waldes, die Stubben noch in der Erde, sie hätte nichts damit anfangen können. Helene von Levetzow zog weiter in den Englischen Sektor. Nach dem Kollaps der DDR sah man sie wieder in Mecklenburg. Das alte Schloss, über die Jahre als Schule, Kindergarten, Gasthaus, Rathaus und Poststelle genutzt, gammelte vor sich hin und verfiel. Da es unter Denkmalschutz stand, also weder abgerissen, noch mit schmalen Haushaltsmitteln halbwegs erhalten werden konnte, überließ man es ihr für eine Mark. Noch einmal wohnte sie kurzzeitig dort. Jetzt wird sie 90 und lebt in Berlin, in einer Seniorenanlage. Dort habe ich mich zum ersten Mal mit Joachim-Dietrich von Levetzow, ihrem Sohn verabredet. Der Baron kommt im VW, trägt zur Weste eine Fliege und in der Hand ein Kuchenpaket - seine Mutter ahnt nichts von meinem Besuch, er will sie nicht in die Verlegenheit bringen, einen Gast nicht bewirten zu können. Die alte Baronin freut sich: Sie hat Appetit auf Apfelstrudel und zündet, während von Levetzow Kuchen, Sahne und Tee serviert, die Kerzen eines Leuchters an, den sie vor uns auf den Tisch stellt. Ich schätze, ein alter Tafelleuchter, aber ich bin mir nicht sicher. Denn das Appartement der Baronin, das zwar teuer sein dürfte, ist klein und seine Ausstattung kaum verschwenderisch zu nennen: ein Bett, ein Schränkchen mit Dokumenten, ein Schaukelstuhl, den sie selten benutzt, wenn ich dem Schaffell Glauben schenke, dessen Flor noch ladenneu ist, das Tischchen, an dem wir zusammensitzen, rundum drei Stühle, nirgends ein Sessel, den eine alte Frau brauchen könnte. Das dicke Geld, hier ist es nicht. »Wir haben es nicht«, sagt von Levetzow. »Woher auch? Uns wurde alles genommen. Der Westen hat uns nie entschädigt. Es hieß, die DDR sei kein Rechtsstaat. Wenn sie denn zusammenbräche, würden wir alles zurückbekommen.« Die von Levetzows mussten bei Null beginnen. Wie das Gros der Deutschen im Nachkriegsdeutschland. Helene von Levetzow arbeitete achtzehn Jahre lang in einer Chemiefabrik. Sie fixiert mich mit wachem Adlerblick aus klaren wasserblauen Augen, einem Blick, dem Härte nicht fremd ist, auch nicht die Härte gegen sich selbst, so dass ich Respekt empfinde. Auch Joachim-Dietrich arbeitete. Nach dem Schulabschluss lernte er auf dem Bau, »es wäre absurd gewesen, von den Kollegen zu erwarten, dass sie mich mit "Herr Baron" anreden«. Sie nannten ihn Achim, später, beim Studium, das er sich mit Jobben verdiente und als Bauingenieur beendete, noch später, beim Hochschulstudium, war er Joe für seine Freunde. Wie sie hegte er sozialistische Träume, es waren die 60er. »Bis ich begriff«, sagt von Levetzow, »dass wir nicht nur unsere Ketten, sondern auch das Einfamilienhaus, den Mercedes und die Reise nach Spanien zu verlieren hatten.« Er arbeitete als Geschäftsführer bei Tochtergesellschaften von Konzernen, heute ist er 59 und bei einer Baufirma beschäftigt. Es klingt nach einem erfüllten Leben. Nach Ehrgeiz, Arbeit, Mühe, Leistung. Von Levetzow nickt, darauf sei er stolz. Stolz sei er auch auf seine Herkunft, er komme aus einer guten Familie, doch Ansprüche dürfe man nicht ableiten, man müsse sich selbst als würdig erweisen. »Viele glauben, Adel sei Dünkel«, beginnt er einen Satz, dann lacht er: »Und wissen Sie was? Das stimmt auch.« Von Levetzowsche Familiengeschichten. Die alte Baronin gibt sie zum Besten: Ihre Großmutter war eine Gräfin von Harrach. Einmal, als ein Baron von Müller ihr seine Karte überreichte, griff sie die Karte mit zwei Fingern, spitzte die Lippen und blies darauf: »Ob mit oder ohne "von", da klebt noch der Mehlstaub dran.« Von Levetzow erklärt die Pointe: »Eine Gräfin«, wissen Sie, »steht zwei Stufen höher als ein Baron.« Mir fällt auf, dass er sich auskennt. Auch seine Mutter, erfahre ich, sei eine geborene Gräfin. Eine von Vitzthum, die ihre Kindheit im Dresdener Schloss verlebte, als Tochter des letzten Staatsministers jenes letzten sächsischen Königs, der im Revolutionsjahr 1918 mit den Worten abdankte »Macht doch euern Dreck alleene«. Ohne diese Revolution hätte sie keinen Landjunker heiraten müssen. Helene von Levetzow war 21, als sie die Ehe mit Baron Joachim-Dietrich von Levetzow einging. Sie sagt von Lehvtzo, so spreche man ihren Namen in Mecklenburg aus. Man schrieb das Jahr 1933. Ihr Leben in Lelkendorf fiel mit der Nazizeit zusammen - sie erinnert sich an den Blick über den Kummerower See, an die Pferdezucht, ans Reiten. Vom Leben des Dorfes erzählt sie nichts. Bereitwillig springt der Sohn für sie ein: Auf dem Gut seiner Eltern waren etwa 300 Leute beschäftigt, 95 Prozent der Dörfler arbeiteten dort als Tagelöhner. Geld erhielten sie nur wenig, statt dessen Deputate, Lebensmittel. Von Levetzow beschreibt jeden Stein, als habe er ihn selbst gesehen, als sei er nicht erst zwei gewesen, als man ihn in den Zug setzte... Soeben hat das zweite Leben von Levetzows den Raum betreten. Das Leben, das er nicht gelebt hat. »Mein Vater sprach nur noch von Lelkendorf, nur noch die Vergangenheit zählte. Die absolute Deklassierung, die Ansprüche, die er an mich stellte, haben mich jeden Tag begleitet. "Junge", sagte er immer zu mir, "ich will, dass du wieder mal Smoking trägst. Dass du dich wieder emporarbeitest, dass du wieder nach Lelkendorf ziehst, dorthin, wo du hingehörst." Das wollte ich nie. Doch jetzt bin ich da. An jedem zweiten Wochenende.« Wir wissen beide, worauf das hinausläuft. Auf die unausweichliche Frage: Wie stand seine Familie zu Hitler? Und beide wissen wir, dass wir darauf keine schlüssige Antwort finden werden. Klar wird die alte Baronin sagen: »Wir waren keine Kriegsverbrecher, der Hitler war für uns nur ein Piefke«. Und es wird passen, ich werde es glauben. Trotzdem wird sie nicht bestreiten, dass der Landadel absahnte. Dass die Ufa auf dem Gut einen Blut-und-Boden Film drehte und der alte Baron sich vom Honorar ein eigenes Flugzeug leistete. Dass während des gesamten Krieges 50 Kriegsgefangene für die von Levetzows arbeiteten. Die alte Baronin wird einwenden: »Wir haben sie aufgepäppelt.« Wer kann noch das Gegenteil beweisen? Und wenn es stimmte, was würde es ändern? An der Rechtslage eine Menge. Es würde die Enteignung in Frage stellen. Ich war dabei, als Gorbatschow vor Deutschlands versammelten Junkern erklärte, er habe die Unantastbarkeit der Bodenreform nicht zur Bedingung der Vereinigung gemacht. Ich hörte den Jubel, der aufbrandete. Von Levetzow hörte ihn auch. Er sagt: »Ich bin dabei gewesen.« Unsere zweite Begegnung findet wenig später in Lelkendorf statt. Von Levetzow ist aus Berlin gekommen, hat auf dem Tudorturm des Schlosses die Fahne der Familie gehisst und die Mecklenburg-Vorpommerns. Letztere für die Lelkendorfer, um sie nicht allzu sehr zu verschrecken; er weiß, sie sind misstrauisch. Längst nicht mehr so wie anfangs, glaubt er, gleich 1990 habe er vor der Gemeindeversammlung erklärt, dass er keine Ansprüche stelle: Er wolle niemanden vertreiben, das wäre nur neues Unrecht. Was will er um Gottes willen dann hier? Lelkendorf ist ein lüttes Dorf in der Mecklenburger Schweiz. Umgeben von Hügeln, Wäldern und Seen, über denen früh Nebel aufsteigt, der sich manchmal vormittags auflöst. Manchmal strippt es auch tagelang. Was sucht er hier? Was hofft er zu finden? Seine Frau Mechthild, Studienrätin, sagt: »Eine verlorene Kindheit.« Seit zehn Jahren fährt Mechthild von Levetzow mit ihrem Mann nach Lelkendorf. Um Zentner von Schutt aus dem Schloss zu schaffen, für die Handwerker zu kochen, die dem geknechteten Herrenhaus - der Schlosshalle, dem Weinkeller - seine Schönheit zurückgeben. Es habe sich als Glück erwiesen, sagt von Levetzow versöhnlich, dass das Schloss genutzt wurde, so sei es immerhin beheizt und in gar nicht so schlechtem Zustand gewesen. Inzwischen haben sie Eigentums- und Ferienwohnungen eingerichtet, die hoffen sie, an den Mann zu bringen. Sonst würde sich die Bank freuen: Zwei Millionen sind schon verbaut, zum übergroßen Teil aus Krediten, der Rest aus Lebensversicherungen, die sie eigens auflösten... Wozu das alles? Was bringt es ihnen? Von Levetzow zuckt mit den Schultern: »Kreativität, Anerkennung.« Er fühle sich hier aufgenommen, und das mache ihn sehr glücklich. Hier draußen trägt er keine Fliege, sondern Rolli unter der Weste. Gerade hat er im Park hantiert; mit der Säge umzugehen, hat er vom alten Herrn Voss gelernt. Wie bestellt biegt dessen Sohn Sigmund um die Schlossecke. »Mein Hofhund«, stellt ihn von Levetzow vor, dann merkt er, das kam nicht so gut und legt Sigmund Voss die Hand auf die Schulter: »Stimmts Sigmund? Wir haben ein gutes Verhältnis.« Der Hausmeister lacht unbehaglich. Er duzt seinen Arbeitgeber nicht, er umschifft die Anrede lieber. Es ist ja auch nicht einfach für ihn. Als Ostler hat er nicht gelernt, jemanden mit »Herr Baron« anzureden. Und eigentlich will er es auch nicht. Von Levetzow hat die Idee, dass die Leute ihn »Junker Joe« nennen könnten. Die Idee gefällt ihm gut. Junker Joe, das wäre köstlich! Durch ein geöffnetes Schlossfenster klingt getragen Musik in den Park. Drei Musiker von Barenboim spielen sich für eine Mugge ein. Die von Levetzows erwarten Gäste - Eigentümer der Umgebung und eine Gruppe der Volkssolidarität. Die Gastgeber müssen sich vorbereiten, ich habe Zeit, durch das Dorf zu streifen. Die von Levetzows? fragt Eggo Habelt, seit 1990 Bürgermeister. Er habe keine Probleme mit ihnen. Die Probleme lägen woanders: mehr als 30 Prozent Arbeitslose. Keine der beiden LPG, eine Tierproduktion und eine Pflanze, habe überleben können. Viele führen zur Arbeit nach Hamburg, seien über die Woche fort und würden die Levetzows gar nicht kennen. Er sagt Levetzows und nicht Lehvtzos - daran, wie man den Namen hier aussprach, kann sich Habelt nicht mehr erinnern. Erinnern können sich im Dorf lediglich noch zwei Männer. Einer davon ist Karl-Heinz Voss, früher Bauer, heute Rentner. Er kannte noch den alten Baron, der kaufte bei seiner Mutter Gänse. Viel mehr weiß er eigentlich nicht. Nur, dass damals der alten Baronin, die eine Köchin, Wäscherinnen, Kindermädchen und Zofen besaß, einmal eine Zofe weglief. Die wollte um keinen Preis zurück: »Bei der alten Ziege nicht mehr!« Und dass er bei Ausschachtungen am Schloss eine Flasche gefunden hat, die Handwerker um 1900 vergruben. Ein Zettel habe darin gesteckt: »Schlechte Bewirtung, schlechte Bezahlung.« Voss grinst: »Was das hieß, können Sie sich denken.« Auch der zweite Mann ist Rentner. Rolf Klasen, Sohn des Gutsförsters, setzt seine Akzente anders. Der alte Baron, so erinnert er es, sei ein Lebemann gewesen, »die Wirtschaft schmissen die Inspektoren«. Die alte Baronin sei hingegen im Dorf recht gut gelitten worden. Und wenn er abends auf den Hof kam, saßen die Russen in ihrem Verschlag und spielten »auf der Quetschkommode diese Lieder aus ihrer Heimat«. Die Schlosshalle hat sich gefüllt. Unter den Gästen Schulte-Ebberts, die aus Dortmund nach Lelkendorf zogen. Adolf Schulte-Ebbert kaufte den einstigen LPG-Bauern das Land ab, das sie von der Bodenreform erhielten - insgesamt 600 Hektar. Um sie zu bewirtschaften, braucht er ganze drei Mitarbeiter. Sicher doch, sagt von Levetzow, sollte die Bodenreformklausel kippen, wolle er auch Land zurück: ebenfalls 600 Hektar, und zwar jene, von denen keine andere Existenz abhänge: »Das Land ernährt das Haus«, sagt er. Vielleicht könnte es wie bei Schulte-Ebbert noch drei weitere Leute ernähren, doch nicht mehr wie früher das ganze Dorf - Rückkehr an einen anderen Ort. Was kein Problem der von Levetzows wäre. Gespannte Stille vor dem Konzert. Die Familie sitzt ganz vorn, gleich neben den Musikern - Königsloge mit Klappstühlen. Helene von Levetzow genießt es, noch einmal als Hausherrin Huldigungen entgegenzunehmen. Die Wahrheit ist: Gebraucht wird sie nicht mehr. Von Levetzow kündigt das »international bekannte Trio der Staatsoper« an: Junker Joe auf Schloss Lelkendorf. Ein bisschen ist es wie Indianerspielen, und ich glaube, von Levetzow weiß es.

http://www.schloss-lelkendorf.de/

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