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Einmal mit Gysi Pferde stehlen
Ein Wessi macht im Osten Karriere: Als die Mauer fiel, war Freke Over Blumenzwiebelverkäufer in Freiburg im Breisgau, einige Jahre später PDS-Abgeordneter in Berlin
Neben der Familie Over/Klumb leben im »Ferienland Luhme« im Norden Brandenburgs einige Hühner, drei Schafe, eine Ziege. Pferde, die man zusammen mit Gregor Gysi stehlen könnte, gibt es in der Nachbarschaft auch. Das muss man wissen, wenn man zum ehemaligen Berliner Abgeordneten der PDS und späteren Linkspartei Freke Over aufs Land fährt.
Der Erstkontakt zwischen Freke Over und der PDS fand zu Zeiten statt, als es die DDR noch gab – und er begann mit einem Missverständnis. In der »taz« stand Mitte 1990 eine kleine Anzeige: »Wer will mit Gregor Gysi Pferde stehlen?« Freke Over wollte und wurde mit Freunden im Karl-Liebknecht-Haus vorstellig. Doch weder der Pförtner noch die rasch herbeigeeilte und peinlich berührte Parteispitze wusste etwas von der Pferde-Aktion Gysis. Der Übeltäter war schnell identifiziert: Die Linke Liste Westberlin, jenes Sammelsurium von Westlinken aus Kreuzberg, die nach der Wende für die PDS im tiefen Westen der Stadt die Wahltrommel rührte, hatte den Parteiauftrag »Aufbau West« etwas zu plakativ verstanden.
Glücksfall Maueröffnung
Hier offenbarte sich schon das, was in den Monaten und Jahren danach immer wieder zu Konflikten zwischen PDS und den Anarcho-Linken im Westen führen sollte: 40 Jahre deutsch-deutsche Teilung haben die Linken (Ost) und Linken (West) auch kulturell getrennt. Natürlich wollten die West-Genossen die Menschen nicht zum Pferdestehlen verführen, und natürlich war der Aufruf eines Wahlplakates der Westberliner Genossen, das kurze Zeit später auftauchte, nicht ganz ernst gemeint. Mit dem Slogan »98,8 Prozent, wie immer« gingen die Westberliner Linken im Bundestagswahlkampf 1990 für die PDS im Ostberliner Stadtteil Friedrichshain auf Stimmenfang. »Weder die Parteispitze noch die Genossen in Friedrichshain waren darüber erfreut«, amüsiert sich Freke Over noch heute über die ersten linken deutsch-deutschen Misstöne.
Diese Chuzpe ist der Gnade der späten Geburt geschuldet. Als Freke Over das Licht der Welt erblickte, stand die Mauer schon seit sechs Jahren. Als diese fiel, war der Sohn eines VW-Personalmanagers und einer Kunsttherapeutin aus Hannover 22 Jahre alt. Im Kalten Krieg stand die DDR immer auf der anderen Seite. »Die DDR war weit weg, die deutsch-deutsche Teilung war eine politische Tatsache, daran zu rütteln, Ausdruck des politischen Revanchismus.« Der junge Freke engagierte sich in der Landkommunen-Bewegung Westdeutschlands. In alten Bauernhöfen wurde der Ausstieg aus dem falschen Leben geprobt, Debatten um ökologisches Wirtschaften, Entscheidungen im Konsensprinzip und Selbstversorgung mit Nahrungsmitteln bestimmten den Alltag. Diese Philosophie stand Begriffen wie Planerfüllung, Demokratischer Zentralismus oder Kaderschulungen so fern wie ein Veganer dem Fleischerhandwerk.
Mauerfall und Wiedervereinigung waren für Freke Over dennoch wie für so viele der Baby-Boomer-Generation aus dem Westen ein Glücksfall. Im einstigen Wohlstandswunderland BRD herrschte für diese Generation ab Mitte der 1980er Jahre allerorten Mangelwirtschaft: Es gab zu wenig Studienplätze, zu wenig Ausbildungsplätze, dafür steigende Arbeitslosigkeit. An einen Marsch durch die Institutionen wie in der 68er Elterngeneration war nicht zu denken – es gab einfach kaum noch Stationen auf diesem Marsch, die nicht schon doppelt oder dreifach besetzt waren.
Für Freke Over und seine Generation kam die deutsch-deutsche Vereinigung daher genau zum richtigen Zeitpunkt. Im wilden Osten gab es noch jene Entfaltungsmöglichkeiten, die die alte Bundesrepublik schon nicht mehr hatte. Und es gab dort Menschen, denen gerade ein ganzes Gesellschaftssystem wegkrachte und die immer mehr das Gefühl beschlich, zu ungeliebten Brüdern und Schwestern im geeinten Deutschland zu werden – so ungeliebt und randständig wie viele Linke im Westen.
Freke Over gehörte gewissermaßen zu den ersten Trappern, die gen Osten zogen – auch, um von den Einheimischen zu lernen. Anfang 1990 organisierte er in Ost-Berlin zusammen mit dem Chaos Computer Club einen Computer-Kongress. Eine weitere Station war Anfang 1991 ein kleiner Ziegenhof in der Nähe von Zeitz (Sachsen-Anhalt), bei dessen Aufbau er mithalf. Mit den Menschen im fernen Osten hätten Idealisten wie er mehr gemein gehabt als mit den Wohlstandsbürgern im Westen, »wo jeder für sich lebte, ohne sich um den andern zu kümmern«, blickt Freke Over heute auf die erste bewegte Zeit im damals noch nicht an die Bundesrepublik angeschlossenen Teil Deutschlands zurück. In seiner ersten Landkommune, in der er ab Mitte der 1980er Jahre wohnte, habe es zwei Jahre gedauert, bis man bei den Nachbarn zum Kaffeetrinken eingeladen wurde. »In Zeitz dagegen kamen wir ganz schnell in Kontakt mit den Menschen.«
Vom »bunten Hund« zum Störenfried
Im November 1989 aber jobbte Freke Over noch als Blumenzwiebelverkäufer auf dem Markt in Freiburg im Breisgau. Dann fiel die Mauer und drei Tage später stand er mit seinen Blumenzwiebeln vor dem Kaufhaus des Westens in Berlin. Dauerhaft wollte er sich zunächst nicht in der jetzt wieder offenen Stadt Berlin niederlassen. Aus dem geplanten Kurzzeitaufenthalt wurden jedoch 17 Jahre, in denen sich Freke Over vom PDS-Plakatekleber (»50 Pfennig pro Plakat gab es im Bundestagswahlkampf 1990, das war damals viel Geld«) zum PDS-Parlamentarier im Abgeordnetenhaus mit Kult-Status entwickelte. Legendär sein Schreiben, mit dem er 2001 um behördliche Erlaubnis für eine Spaßaktion von Friedrichshainer und Kreuzberger Politfreaks im frisch fusionierten Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg bat. »Sehr geehrte Damen und Herren, ich möchte hiermit bei Ihnen eine Straßenschlacht anmelden.« Der Aufzug wurde genehmigt und von da an zogen jährlich mit Eiern, Tomaten und anderem Gemüse Bewaffnete zur Oberbaumbrücke, die die beiden Stadtteile verbindet. 1994 machte sich Over als Gewerbetreibender selbstständig. Seine KGB (Kohle-Gips-Bier GmbH) versorgte die linke Friedrichshainer Szene mit Bier und anderen Nahrungsmitteln. Das Image des hausbesetzenden Bürgerschrecks bekam er eigentlich nie los. 1999 warnte der damalige SPD-Bezirksbürgermeister von Friedrichshain, Helios Mendiburu, in eindringlichen Worten vor Over, der jene »Chaoten« unterstütze, »die ständig die Nachtruhe stören ... und dazu beitragen, dass die Rigaer Straße von Schmutz und Schmierereien, Hundedreck und Sperrmüll überquillt«.
Zum Zweitkontakt mit der PDS kam es 1995. Wenige Monate vor den Wahlen zum Berliner Abgeordnetenhaus hatte er wieder einmal mit einer Hausbesetzung für öffentliche Aufruhr gesorgt. Der »bunte Hund« passte gut in »Gysis bunte Truppe«, mit der die PDS schon in den 1994er Bundestagswahlkampf gezogen war. Freke Over wurde Direktkandidat für den Wahlkreis Friedrichshain, gewann das Mandat und verteidigte es in zwei weiteren Wahlen. Aus dem Bürgerschreck wurde ein ordentliches Mitglied des Berliner Abgeordnetenhauses und im Karl-Liebknecht-Haus waren auch die Anzugträger mit Krawatte sicherlich stolz darauf, dass im Szene-Kiez Friedrichshain die PDS bei jeder Wahl die Grünen hinter sich ließ. Mit der roten Herrlichkeit ist es seit einigen Jahren in Friedrichshain vorbei. Das Quartier hat sich gewandelt. Den Hausbesetzern folgten die Studenten und jungen Familien; mittlerweile dominieren die Grünen Overs alten Wahlbezirk.
Abschied aus der Berliner Politik
Der Abschied Overs aus der Berliner Politik vor drei Jahren hatte viele Gründe. Einer davon war der Eintritt der PDS in die Koalition mit der SPD nach den Wahlen 2001. Auf einmal galt Koalitions- und Fraktionsdisziplin, stimmten die Genossen zähneknirschend dem staatlichen Rettungsschirm für die Berliner Bankgesellschaft zu. Außenseiter Over, der »bunte Hund«, war kein Farbkleckser mehr, der für gute Wahlergebnisse im Szene-Kiez stand, sondern er war jetzt ein Außenseiter, der als Störenfried galt. Over verweigerte sich dem für die Regierungspartei PDS so wichtigen geschlossenen Auftreten nach außen. 2006 war Schicht im Schacht, Over erklärte, er werde nicht mehr für die nächste Legislaturperiode kandidieren. »Viele waren damals überrascht, aber ich hatte immer gesagt, dass ich nicht als Rentner im Parlament sitzen will«, versichert Over.
Den Abschied hatte er lange vorbereitet. Schon 2004 hatten er und seine Frau Anette Klumb bei Rheinsberg im Norden Brandenburgs ein neues Domizil für sich und ihre drei Kinder entdeckt. Sie kauften aus der Konkursmasse der Konsum-Genossenschaft eine ehemalige Ferienanlage in Luhme und bauten sie zu einer Freizeiteinrichtung für Familien mit Kindern um. Das »Ferienland Luhme« wächst, ist gut gebucht. Unter der Woche sind es Schulklassen und Kitas, am Wochenende lockt die Idylle auch die gut betuchten Webdesigner, Grafiker und all die anderen »Kreativen« aus dem Prenzlauer Berg und Berlin-Mitte nach Luhme. Das Bild entbehrt nicht einer gewissen Ironie: Der ehemalige Anarcho, Hausbesetzer und PDS-Abgeordnete ist heute Herbergsvater für das grün wählende Berliner Linksbürgertum. Den Vorwurf lässt Freke Over so nicht gelten. »Es kommen auch alte Freunde mit ihren Kindern, um sich vom Stress der Großstadt zu erholen.« Ab einem gewissen Familienstand gewinnt das bürgerliche Leben unverkennbar an Attraktivität.
Politik macht der mittlerweile 42-Jährige auch heute noch. Seit Herbst 2006 sitzt er für die Linkspartei im Rheinsberger Stadtrat. Statt Hausbesetzungen zu organisieren, Demos anzumelden, Bankenskandale parlamentarisch aufzuarbeiten und sich mit dem damaligen haushaltspolitischen Sprecher der Linksfraktion im Berliner Abgeordnetenhaus, Carl Wechselberg, Wortgefechte um die Privatisierung kommunalen Eigentums zu liefern, streitet der Stadtverordnete Over jetzt um neue Bushaltestellen und Wegenutzungspläne – und findet sich im aktuellen innerparteilichen Konflikt zwischen den Befürwortern von Koalitionen mit der SPD und deren Gegnern unvermittelt auf der Seite seiner einstigen Kritiker in der damaligen Berliner PDS wieder. »Lafontaine hat die Realos aus dem Osten an die Wand gedrückt«, stellt Freke Over fest. »Die Technokraten aus dem Westen übernehmen nach und nach das Ruder, den offenen Diskurs von früher gibt es nicht mehr.«
Over nimmt dem Parteivorsitzenden Oskar Lafontaine dessen Fundamentalopposition nicht ab. »Wenn Müntefering mit einem Ministeramt winkt, ist der doch der erste, der den Bundeswehreinsatz in Afghanistan zur ›humanitären Aktion‹ verklärt«, kritisiert er. Die Linkspartei drohe eine ähnliche Entwicklung zu nehmen wie einst die SPD, »bei der frisch ins Parlament Gewählte erst einmal vier Jahre lang auf der letzten Bank Platz zu nehmen und die Klappe zu halten haben.« In solch einer Atmosphäre liegt der Gedanke, man könnte mit Gregor Gysi Pferde stehlen, in weiter Ferne.
Die ND-Serie »20 Jahre nach '89« erscheint jeweils zu Wochenbeginn.
Am nächsten Montag:
Die »Amselfeld-Rede« von Slobodan Milosevic und der Kosovo-Konflikt.
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