»... ein Gespenst geht um, und das sind wir«
Der 13. August 1961 in DEFA-Filmen: Spinnstunde im Auftrag Sindermanns und ein Fluchtversuch, der mit Marx endet
Die Berliner Mauer war kein bevorzugtes Sujet in DEFA-Spielfilmen. Gleichwohl gab es einen künstlerischen Reflex auf deren Bau. Bereits unmittelbar nach dem 13. August 1961 montierten Autor Paul Wiens und Regisseur Frank Vogel dokumentarische Grenzszenen in eine bereits früher konzipierte Dreiecksgeschichte: »... und deine Liebe auch«. Ebenso schnell schrieb sich Manfred Krug mit Horst Bastian die Uniform eines Kampfgruppen-Mannes auf den Leib, der sich in eine Ex-Grenzgängerin verliebt. Im Schutze der von ihm bewachten Mauer vollendet sich ihr Glück im Film »Der Kinnhaken«. Beide Streifen kamen noch 1962 ins Kino.
Nach dem Desaster des 11. Plenums des ZK der SED 1965 und dem Verbot einer halben DEFA-Jahresproduktion wurde der Mauerbau nur noch ein einziges Mal thematisiert. Mit dem Episodenfilm »Geschichten jener Nacht«, von vier Kollektiven produziert, sollte die klaffende Lücke gefüllt, ein angedrohter Subventionsentzug vermieden und der VII. Parteitag der SED im April 1967 DEFA-freundlich gestimmt werden.
Die Idee stammte von Produktionschef Albert Wilkening. Politbürokandidat Horst Sindermann stiftete auf einer Präsidialratstagung des Kulturbundes das Thema: der Einsatz der Kampfgruppen zur Schließung der noch nicht mauerbewehrten Grenze zu Westberlin.
»Sindermann macht's möglich«, hieß es zuweilen in kühner Abwandlung eines westlichen Werbeslogans. Manche Veränderung im größten industriellen Ballungsraum wurde ihm zugeschrieben, nachdem er 1963 SED-Bezirkschef in Halle geworden war. Seine Kulturpolitik war indes höchst widersprüchlich. Da gab es die heftigen Attacken seiner Parteizeitung gegen Buch und Film »Der geteilte Himmel«. Wenig später lockte »Spur der Steine« noch viele Filmtouristen nach Halle, als ihn der Leipziger Nachbarregent Paul Fröhlich bereits aus den Kinos verbannt hatte. Sindermann holte Gerhard Wolfram als Intendanten und Horst Schönemann als Oberspielleiter aus Berlin an sein »Landestheater«, das mit Bühnenfassungen von Hermann Kants »Aula« und Ulrich Plenzdorfs nicht realisiertem Filmstoff »Die neuen Leiden des jungen W.« Furore machte. Auf dem 11. Plenum 1965 hingegen machte Sindermann fehlerhafte Theorien und Elite-Anmaßungen »arroganter Intellektueller« wie Stefan Heym und »kulturloser Reimer« wie Wolf Biermann für das Verbot einiger DEFA-Filme verantwortlich. Biermann rächte sich später mit dem Schmäh »Sindermann, du blinder Mann«.
An einem Septemberabend 1966 lud nun der neue DEFA-Schutzpatron den Chefdramaturgen und mich in sein bescheidenes Einfamilienhaus am Hallenser Stadtrand. Sindermann kam gleich zur Sache. Er wolle nur beratend zur Seite stehen, als Genosse, nicht als Funktionär oder Kontrolleur. Kontakt mit ihm halte Karlheinz Carpentier, Fernsehregisseur im Studio Halle. Von jenem käme auch die Idee, Bruchstücke aus seiner, Sindermanns, antifaschistischer Biografie zu nutzen.
Carpentier wollte mit seiner filmischen Episode »Phönix« an die Kämpfe erinnern, als die Antifaschisten ihren Gegnern noch waffen- und machtlos unterlegen waren. Wir hatten als Autor Helmut Baierl gewonnen. Sindermann aber wünschte die Mitarbeit weiterer Autoren »seines« Bezirks. Er dachte an Erik Neutsch und erstaunlicherweise auch an Werner Bräunig, der wegen seines unvollendeten Wismut-Romans »Rummelplatz« gerade politisch scharf attackiert wurde.
Auch für die Besetzung der Hauptrollen in den vier Kurzfilmen ermunterte Sindermann ausdrücklich zur Mitwirkung von Darstellern aus den gerade verbotenen Filmen. Man müsse jedem Gerücht um »schwarze Listen« entgegenwirken. Deshalb konnte man auch bald Erwin Geschonneck und Dieter Mann (»Berlin um die Ecke«), Eberhard Esche und Johannes Wieke (»Spur der Steine«), Hans Hardt-Hardtloff (»Denk bloß nicht, ich heule«; »Karla«; »Berlin um die Ecke«), Inge Keller (»Karla«) und Angelika Waller (»Das Kaninchen bin ich«) in dem zum bevorstehenden Parteitag gedrehten Episodenfilm über den Mauerbau sehen.
Unduldsam und ungnädig blieb Sindermann allein in seinem Urteil über seinen Genossen und ZK-Kandidaten Hans-Peter Minetti, dem er die realitätsnahe Gestaltung des dogmatischen Parteisekretärs Bleibtreu in »Spur der Steine« nicht verzeihen wollte.
Zum 7. Oktober 1966 wurden die Autoren und Regisseure ins Hallenser Gästehaus der Partei zu einer »Spinnstunde« eingeladen, um sich über ihre Ideen für den Novellenkranz auszutauschen. Gerhard Klein war an einer komödischen Skizze Helmut Baierls interessiert, Frank Vogel hatte seinen Kontakt zu Werner Bräunig genutzt. Erik Neutsch, von den Turbulenzen der Romanverfilmung eher unberührt, brachte seinen Fernsehpartner Ulrich Thein mit. Dieser machte seinen Kameramann Hartwig Strobel zum Mitautor für Neutschs dramatische Fluchtgeschichte »Die Prüfung«. Bräunig entwarf mit Frank Vogel das epische Filmporträt einer typischen Arbeitergestalt: »Materna«.
Sorge bereitete uns die hohe Hürde der Drehbuchabnahme und Produktionsfreigabe durch die Hauptverwaltung Film und die »Abteilung Sicherheit« des ZK. Ohne deren Zustimmung und Weisung war keine Kampfgruppeneinheit für die Dreharbeiten zu mobilisieren.
Meine größten Hoffnungen richteten sich auf Helmut Baierl und den Regisseur Gerhard Klein. Ihre filmische Erzählung »Der kleine und der große Willi« mit Erwin Geschonneck bot Generations- und Charakterstudien, die einen ironisch-heiteren Umgang mit dem politisch konfliktträchtigen Gegenstand versprachen.
Die Enttäuschung war maßlos, dass gerade diese Geschichte auf totale Ablehnung stieß. Die Idee sei politisch falsch und in der Darstellung unrealistisch. Die Sicherheitsabteilung des ZK ließ uns über die Hauptverwaltung Film wissen: »Mangelnde militärische und politische Wachsamkeit in der Alarmnacht« gebe es nicht, und so durfte sie es auch im Film nicht geben. Die »Würde der Kampfgruppenzugehörigkeit« dürfe einem Jugendlichen, der als »Grenzverletzer« festgenommen worden ist, wenn überhaupt, dann höchstens nach jahrelangem Umerziehungsprozess zuteil werden.
Neben Verstößen gegen das halbmilitärische Reglement und diverse Dienstvorschriften hatte die Tugendwächter die vermeintliche Doppelmoral unseres positiven Helden, gespielt von Geschonneck, aufgebracht: Die von Westberliner Seite den uniformierten Maurern provokativ zugeworfene Schachtel US-Zigaretten fängt der »große Willi« auf und mauert sie in die Grenzbefestigung ein – zur Enttäuschung der Spender. Doch nur die leere Packung wurde im Zement begraben. Später verteilt er insgeheim die geschickt geretteten Glimmstengel an seine Kameraden. Solch apolitische Produktanbetung wollte man nicht durchgehen lassen. Baierls Argument, ein Arbeiter vernichte kein Genussmittel, auch nicht aus kapitalistischer Produktion, ließ man nicht gelten.
Dennoch wurden in letzter Minute, trotz aller Vorbehalte, die Dreharbeiten auch für diese Episode freigegeben. »Verletzungen der militärischen Wachsamkeit werden durch die menschlich warme und optimistische Ausstrahlung dieser Episode und des positiven Helden glücklich überspielt, so dass eine negative politische Wirkung nicht zu befürchten ist«, hatte ich in unserer Abnahmeempfehlung jene kleinen künstlerischen Freiheiten, die wir den Zensoren zumuteten, verteidigt.
Die Uraufführung der »Geschichten jener Nacht« fand im Berliner Filmtheater International am 17. April 1967 vor ins Kino delegierten Delegierten des VII. Parteitages der SED statt. Der Beifall war freundlich, nicht stürmisch. Traurig stimmte uns, dass Regisseur Gerhard Klein weder die Erstaufführung noch die offizielle Premiere erleben konnte. Er starb am 21. Mai 1970 an seinem Krebsleiden.
Im Rückblick urteilte 1992 Klaus Wischnewski, nur eine der vier Episoden habe »die ästhetische Dimension des geschichtlichen Stoffes gewertet«. Die sah er in der damals kräftig belachten Pointe zwischen dem »großen« und »kleinen« Willi. Ersterer fragt den Jungen, der bei seinem Fluchtversuch ertappt worden ist, ob er den ersten Satz im Kommunistischen Manifest kenne. Als dieser verneint, antwortet der »Kampfgruppenoffizier« Geschonneck: »Ein Gespenst geht um in Europa, und das sind zur Zeit wir.«
Mit Recht fragte der Kritiker nach dem tragischen Aspekt im Episodenkranz. »Man verharrrte im provinziellen Selbstverständnis der Geschichte.« Der Dramaturg kann dem Urteil nur zustimmen.
Unser Autor, DEFA-Dramaturg, leitete 1964 bis 1990 die Gruppe »Babelsberg« und schrieb u.a. ein Buch über »Unsere nicht gedrehten Filme« (Berlin 2000, für 3 € erhältlich im ND-Shop).
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