»Mexiko leidet seit Jahrzehnten unter exorbitanter Straflosigkeit«
Rechtsanwalt Vidulfo Rosales über das Versagen der Justiz bei Menschenrechtsverletzungen
ND: In den letzten Jahren häufen sich die Berichte über Menschenrechtsverletzungen in Mexiko. Was sind die Ursachen?
Rosales: Seit den 60er Jahren haben wir in Mexiko mehr als 1200 Verschwundene registriert. Wir haben es also nicht mit einem neuen Phänomen von Menschenrechtsverletzungen zu tun. Von diesen 1200 Verschwundenen stammt die Hälfte, also 600, aus dem Bundesstaat Guerrero, der seit Langem für seine schlechte Menschenrechtsbilanz bekannt ist. Im Jahr 2000 hat man daher eine neue Abteilung bei der Staatsanwaltschaft gegründet, um diese Fälle aufzuklären. Das war eine Initiative der neuen Regierung von Vicente Fox, die für mehr Transparenz und mehr Recht eintrat. Gleichwohl erwies sich die neue Abteilung als ineffizient, so dass man diese Abteilung der Staatsanwaltschaft wieder schloss. Man hatte es nicht geschafft, auch nur einen der Verantwortlichen für den schmutzigen Krieg, der in den 60er Jahren begann, ausfindig zu machen.
Menschenrechtsverletzungen scheinen in Mexiko kein großes Gewicht beigemessen zu werden ?
Ja, das ist richtig. Immerhin konnte man über die spezielle Abteilung der Staatsanwaltschaft zumindest den Angehörigen die Hoffnung vermitteln, dass sie erfahren würden, wer für das Verschwinden ihrer Angehörigen verantwortlich war. Durch spezifische Regelungen hatten die Angehörigen zudem Anspruch auf Entschädigungszahlungen. Auf internationaler Ebene ist die Dimension der Menschenrechtsverletzungen, mit denen wir es in Mexiko zu tun haben, doch kaum bekannt. Kaum eines der Verbrechen ist je geahndet worden. Wir leiden unter exorbitanter Straflosigkeit und haben es parallel dazu mit einer Zunahme von Menschenrechtsverletzungen in der jüngeren Vergangenheit zu tun. Beide Phänomene gefährden jedoch die Zukunft dieses Landes.
Sehen Sie Reformbedarf im Justizsystem?
Ja, natürlich, aber auf der politischen Agenda der Regierung taucht davon nichts auf. Da konzentriert man sich vor allem auf den Krieg gegen den Drogenhandel und die öffentliche Sicherheit. Das sind die beiden fundamentalen Themen und die Tendenz weist in die Richtung einer Regierung der harten Hand. Die Militarisierung ist weit vorangeschritten, denn man überträgt der Armee immer mehr Aufgaben im Bereich der öffentlichen Sicherheit. Damit geht eine Einschränkung der in der Verfassung verankerten Grundrechte einher. Bestes Beispiel ist die Strafrechtsreform von 2008, die auch international kritisiert wurde, weil sie Grundrechte einschränkt. So zum Beispiel kann jede Straftat, die von mehr als einer Person verübt wird, als organisierte Kriminalität ausgelegt werden. Wenn also zwei Menschenrechtsverteidiger eine Protestaktion wegen der Verletzung des freien Zugangs zum Gesundheitssystem auf einer Straße durchführen, dann kann das bereits als organisierte Kriminalität definiert werden. Das ist aus unserer Sicht unverhältnismäßig, denn so lassen sich zivile Proteste leicht kriminalisieren. Der zivile Protest ist laut der Verfassung unseres Landes jedoch ein Grundrecht, das in der Praxis systematisch beschnitten wird.
Werden diese Eingriffe in die Grundrechte der Mexikaner mit dem Drogenkrieg begründet, dem sich die Regierung verschrieben hat?
Ja, natürlich. Dem Kampf gegen den Drogenhandel wird alles untergeordnet. Selbst eine Hausdurchsuchung kann mit einem Anfangsverdacht durch einen anonymen Anruf begründet werden. Alle diese Maßnahmen sind laut Regierung Voraussetzung, um effektiv gegen den Drogenhandel vorgehen zu können. Aus unserer Perspektive ist das zynisch, denn die Verfassungsgarantien werden außer Kraft gesetzt oder eingeschränkt. Für die Menschenrechtsverteidiger ist diese Situation alles andere als einfach, denn durch die Modifizierung der Gesetze werden wir angreifbarer.
Warum haben Sie sich für die Verteidigung der Grundrechte entschieden?
Ich arbeite seit nunmehr neun Jahren im Zentrum in Tlapa. Ich habe direkt nach der Universität hier angefangen und ich wusste genau was ich wollte, denn ich stamme aus einer indigenen Gemeinde und hier aus den Bergen von Guerrero. Von klein auf wollte ich für die Rechte unserer Gemeinde kämpfen. Ich bin in bescheidenen Verhältnissen aufgewachsen, wir hatten nicht einmal Strom, als ich die Grundschule besuchte. Ich konnte meine Hausaufgaben abends kaum machen und einen befahrbaren Weg in unser Dorf gab es auch nicht – ich musste zu Fuß zur Schule gehen. Das hat viel dazu beigetragen, dass ich mich entschieden habe, für die Rechte meines Volkes zu kämpfen.
Allerdings scheint es wenige Erfolge und viele Rückschläge zu geben. Haben sich die Bedingungen für die Arbeit im Menschenrechtszentrum Tlachinollan verschlechtert?
Ja, es ist manchmal schwierig und frustrierend. Ich bin auch schon persönlich bedroht worden. Es gibt jedoch keine Alternative – wir müssen diesen Kampf für die Menschenrechte weiterführen.
Welche Bedeutung hat denn das Menschenrechtszentrum Tlachinollan in dieser Region des Landes?
Es hat wesentlich dazu beigetragen, dass die Menschen in dieser abgelegenen, von Bergen dominierten Region erfahren haben, dass sie Rechte haben und diese auch einklagen können. Das ist sicherlich ein Erfolg, der ohne die Existenz des Zentrums kaum möglich gewesen wäre.
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