Abschied vom Haifischbecken
Mit Ulla Schmidt geht die dienstälteste Gesundheitsministerin Europas
Ein Mittwoch im September. Es ist kurz vor der Bundestagswahl, bei der Ulla Schmidts »liebe Aachenerinnen und Aachener« ihrer Bundestagsdirektkandidatin die Gefolgschaft verweigern und dem Vorsitzenden des Marburger Bundes, Rudolf Henke (CDU), den Vorzug geben werden. Aber an diesem Mittwoch in der Berliner Bundespressekonferenz ist die sozialdemokratische Welt noch in Ordnung und Schmidt plaudert im elegant schimmernden Anzug über ein humoristisches Buch mit dem Titel »Irre. Wir behandeln die Falschen. Unser Problem sind die Normalen.« Ein Psychiater und Kabarettist hat es geschrieben – pointenreich, witzig, gesellschaftskritisch. Schmidt urteilt positiv und trägt das gewohnt ernsthaft vor. Seit der Affäre um ihren Dienstwagen, den sie zwar vorschriftenkonform, aber nicht sehr öffentlichkeitswirksam in ihren Spanienurlaub kommen ließ, ist sie noch vorsichtiger mit saloppen Bemerkungen.
Witzigkeit war ohnehin nie das Ding der am 13. Juni 1949 geborenen Aachenerin – geschieden, eine Tochter und einer aktuellen Umfrage der Zeitschrift »Textilwirtschaft« zufolge mit ihren ewigen Hosenanzügen lediglich auf Platz 17 der am besten gekleideten deutschen Spitzenpolitiker. Als Studentin gehörte sie dem Kommunistischen Bund Westdeutschlands an und wurde nicht in den Schuldienst übernommen. Man könnte der Psychologin und Pädagogin, die später im Sonderschuldienst arbeitete, eine gewisse nordrheinische heitere Gelassenheit attestieren, ohne die sie es vermutlich auch nicht geschafft hätte, jahrelang im gesundheitspolitischen Haifischbecken zu überleben. 2001 folgte sie der Grünen Andrea Fischer, die infolge der BSE-Krise zurücktreten musste, ins höchste Gesundheitsamt des Landes, begleitet von der hämischen Frage, ob sie der Aufgabe wohl gewachsen sei. Sie blieb länger als alle Damen und Herren vor ihr.
Heute hängen in vielen Arztpraxen des Landes Plakate mit der Losung »Nur noch wenige Tage Ulla Schmidt«. Mit dieser doch sehr persönlichen Aktion, die seit Monaten läuft, machen Ärzteverbände Front gegen die ungeliebte Ministerin. Von zu viel Bürokratie bis zu hohen Gesundheitskosten, zu geringen Arzthonoraren und zu vielen Kassenmitarbeitern wird ihr alles in die Schuhe geschoben, was schlecht an diesem System ist. Freilich gibt es da einiges aufzuzählen, in Schmidts Amtszeit summieren sich die Reformen auf sieben, darunter das Arzneimittelausgaben-Begrenzungsgesetz, das Arzneimittelbudget-Ablösungsgesetz und das GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz. Alle haben das Ziel, die Krankenkassenbeiträge stabil zu halten, denn die zahlen zur Hälfte die Arbeitgeber. Ein Ziel, das auch die Arbeitnehmer gefreut hätte, aber es wird nie erreicht. Ebenso wenig gelingt es Schmidt, Parität und Solidarität in der GKV zu bewahren.
Schmids Bilanz, wenn sie in die dezimierten Reihen ihrer Bundestagsfraktion zurückkehrt: Die Finanzlöcher in der GKV sind so hoch wie nie zuvor. Die Beiträge liegen bei 14,9 Prozent. Allerdings ist auf Drängen der Union das Prinzip der Parität aufgehoben worden, Arbeitgeber zahlen 7,0 und Arbeitnehmer 7,9 Prozent. Zuzahlungen und Praxisgebühr für Patienten sind auf einem Höchststand, aber noch gedeckelt. Verschreibungsfreie Arzneimittel werden von der Krankenkasse nicht mehr übernommen, zahlreiche Leistungen sind aus dem Katalog gestrichen worden. Die Zahl der Krankenkassen reduzierte sich von 630 auf 186, die Zahl der Haus- und Fachärzte stieg von 113 000 auf 134 000, die Einkommen vieler Ärzte erhöhten sich – man könnte sagen: parallel zum Protestgeschehen. Die Pharmaindustrie wurde weitgehend verschont. Erlitt sie durch Rabattverträge mit den Krankenkassen Einbußen, erhöhte sie prompt die Kosten neuer, mitunter fragwürdiger Medikamente in dreisten Dimensionen. Ein lang erprobtes, immer wieder funktionierendes Spiel. Mit den Pharmafirmen hätte sich Schmidt mehr anlegen müssen, meinen einige Ärzte, die der scheidenden Ministerin wohlgesonnen sind. Die meisten sind jedoch froh, wenn deren Ära zu Ende ist. »Der Schaden, den sie angerichtet hat – weg von der Zuwendungsmedizin, hin zur Industrialisierung der Medizin –, ist kaum noch gutzumachen. Während ihrer Amtszeit hat sie sich aus rein populistischen Gründen nicht ernsthaft um den demografischen Wandel oder das Thema Priorisierung gekümmert«, kommentiert Bundesvorstandsmitglied Fritz Stagge vom Virchow-Bund. Die Priorisierung, also die Ausgrenzung von Leistungen für bestimmte Patienten, wird von vielen Ärzten befürwortet, Schmidt lehnte sie stets ab. Kurt Beck von den demokratischen Ärztinnen und Ärzten hält ihr zugute, sich mit den Medizinern angelegt zu haben. Sie habe für eine bessere Bezahlung der Mediziner im Osten gesorgt. »Wir werden uns noch wundern, was unter der neuen Bundesregierung alles möglich ist.«
Die kündigte schon an, dass der Zusatzbeitrag für Patienten in unbegrenzte Höhe steigen soll, die Arbeitgeber von Kostensteigerungen verschont werden und weniger Steuerzuschüsse in das System fließen könnten.
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