Kriegsgräuel vor umstrittenem Gericht
Chefankläger erwartet zwei- bis dreijährige Verfahrensdauer
Der heute 64-jährige Radovan Karadzic trat im Sommer 1990 an die Spitze der neuen Serbischen Demokratischen Partei (SDS), die rasch zur bestimmenden national-serbischen Kraft in Bosnien wurde. Eine mit deutscher Rückendeckung abgehaltene Volksabstimmung zur Abspaltung Bosnien-Herzegowinas vom jugoslawischen Staatsverband im Frühjahr 1992 wurde von den Serben in Bosnien, die ein Drittel der Bevölkerung ausmachten, boykottiert. Die SDS begriff die folgende bosnische Unabhängigkeitserklärung als politische Provokation. Der opferreichste Bürgerkrieg im zerfallenden Jugoslawien, in dem auf allen Seiten unvorstellbare Gräuel begangen wurden, hatte begonnen.
Nach Inkrafttreten des von der USA-Regierung betriebenen Vertrages von Dayton über die Neuordnung Bosnien-Herzegowinas trat Karadzic 1996 vom Vorsitz der SDS und vom Amt des Präsidenten der Serbischen Republik zurück, nachdem ihm der US-amerikanische Sondergesandte Richard Holbrooke angeblich Straffreiheit zugesichert hatte. Jahrelang lebte der studierte Psychiater, der sich auch als Poet betätigt hatte, trotz internationalen Haftbefehls unbehelligt in Pale nahe Sarajevo – bis sich nach 2001/02 der Druck erhöhte, seiner habhaft zu werden. Vor seiner Verhaftung am 21. Juli 2008 hatte Karadzic als Dr. Dragan Dabic mit geändertem Aussehen als Alternativmediziner in Neu-Belgrad gearbeitet.
Die jüngste, am 19. Oktober veröffentlichte Fassung der mehrfach geänderten Anklageschrift wirft der »höchsten zivilen und militärischen Autorität« der bosnischen Serben auf 40 Seiten Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen vor. 29 weitere Seiten listen einzelne Taten auf, wobei auffällig ist, dass die Anklage etwa ein Drittel der konkreten Vorwürfe – für alle sichtbar – gestrichen hat. Vermutlich um den Prozess zeitlich nicht ausufern zu lassen.
In Punkt 9 wird Karadzic beispielsweise vorgeworfen, zwischen Oktober 1991 und November 1995 »ethnische Säuberungen an Muslimen und Kroaten in den von Serben beanspruchten Gebieten« verantwortet zu haben. Ebenso wird ihm Verantwortung für die Massaker nach der Eroberung Srebrenicas durch bosnisch-serbische Truppen im Juli 1995, für Kriegsverbrechen an der Zivilbevölkerung Sarajevos zwischen April 1992 und November 1995 und für die Geiselnahme unter UN-Angehörigen im Mai und Juni 1995 zur Last gelegt. Punkt 11 stellt den Angeklagten als Teilnehmer einer serbischen Verschwörung in eine Reihe mit Slobodan Milosevic (ehemals Präsident Jugoslawiens), dem Milizenführer Zeljko Raznatovic (Arkan), dem serbisch-bosnischen Armeechef Ratko Mladic, oder Vojislav Seselj, Chef der Serbischen Radikalen Partei.
Der Tatbestand des »gemeinschaftlichen kriminellen Unternehmens« durchzieht wie ein roter Faden die gesamte Rechtsprechung des Tribunals. Heftige politische Differenzen zwischen republikanisch-jugoslawischen und monarchistisch-nationalen Positionen, wie sie beispielsweise zwischen Milosevic und Karadzic bestanden, werden von der Anklage durch Verschwörungskonstruktionen glattgebügelt. Die konsequente Weigerung von Anklägern und Richtern, die bosnische Katastrophe als Bürgerkrieg fanatisierter Nationalisten und Fundamentalisten zu betrachten, hat schon in der Vergangenheit zu Schauprozessen geführt, die sich mehrheitlich gegen die »serbische Aggression« gewandt haben. Slobodan Milosevic fiel im Wortsinn einem solchen Schauprozess zum Opfer: Er starb 2006 vor Abschluss seines Verfahrens in der Gefängniszelle. Vojislav Seselj wird seit über sechs Jahren ohne nennenswerte Erfolge der Anklage in Den Haag festgehalten.
Einen fairen Prozess erwartet auch Karadzic nicht. Die von ihm behauptete politische Absprache mit den USA und Richard Holbrooke, nach der er bei Wohlverhalten keine juristische Verfolgung zu fürchten brauche, wurde von Holbrooke in Abrede gestellt und vom Gericht für irrelevant erklärt. Inwieweit Karadzic dies und andere Faktoren benutzen wird, um auf den politischen Charakter des Prozesses aufmerksam zu machen, werden die kommenden Monate zeigen – wenn er sich denn dem Tribunal stellt. »Sobald ich dazu bereit bin«, schrieb er vergangene Woche, »werde ich das Gericht und die Anklage mit einigen Wochen Vorlaufzeit informieren.«
Chefankläger Serge Brammertz hat vor der Presse eine Verfahrensdauer von zwei bis drei Jahren angekündigt. Allein die Anklage meldete 409 Zeugen an. Auch der berühmt-berüchtigte »Kronzeuge« Drazen Erdemovic dürfte bei der Einschätzung der Massaker von Srebrenica wieder zum Einsatz kommen und für kritische Beobachter deutlich machen, wie sehr das Tribunal im Dienste der führenden westlichen Staaten steht. Deren militärische Allianz, die NATO, flog 1994 erstmals in ihrer Geschichte einen Einsatz »out of area« – gegen die bosnischen Serben, denen Radovan Karadzic in jenen Kriegstagen vorstand.
Zahlen und Fakten
Vor dem Tribunal in Den Haag
Der Internationale Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien (ICTY) wurde 1993 auf Beschluss des UN-Sicherheitsrats gebildet, um schwere Verbrechen während der Konflikte auf dem Balkan in den 90er Jahren zu ahnden. Das Tribunal weigerte sich jedoch, in Sachen NATO-Aggression gegen die Bundesrepublik Jugoslawien (1999) tätig zu werden.
Seit Gründung des ICTY wurden 161 Personen angeklagt, die weitaus größte Zahl davon sind Serben und bosnische Serben. Dass dies dem Kriegsgeschehen nicht gerecht wird, gibt selbst die frühere Chefanklägerin Carla del Ponte indirekt zu, wenn sie in ihrem Buch »Im Namen der Anklage« etwa die skandalöse Behinderung von Ermittlungen gegen Führer der kosovo-albanischen UCK durch die UN-Mission in Kosovo beklagt.
Die Verfahren gegen 120 Angeklagte sind abgeschlossen: 11 wurden freigesprochen, 60 verurteilt, 13 an nationale Gerichte überstellt, in 20 Fällen wurde die Anklage zurückgezogen, 10 Angeklagte starben vor der Auslieferung ans Tribunal, 6 danach – darunter Slobodan Milosevic.
Verfahren gegen weitere 37 Angeklagte sind noch anhängig, das gegen Karadzic soll am heutigen Montag eröffnet werden, der Prozess gegen den bosnischen Serben Zdravko Tolimir beginnt voraussichtlich im Dezember. Zwei Angeklagte sind nach wie vor flüchtig: der bosnisch-serbische Armeechef Ratko Mladic und Goran Hadzic, ehemaliger Chef der Republik Serbische Krajina in Kroatien.
Die zu elf Jahren Haft verurteilte Amtsnachfolgerin von Radovan Karadzic, Biljana Plavsic, wird am Dienstag übrigens nach Verbüßung von zwei Dritteln ihrer Strafe wegen »guter Führung« aus ihrem schwedischen Gefängnis entlassen. Plavsic hatte sich dem Tribunal gestellt und sich der Verbrechen gegen die Menschlichkeit schuldig bekannt, worauf das Gericht alle anderen Anklagepunkte gegen sie fallen ließ, darunter den des Völkermords. In der Anklage gegen Karadzic figuriert sie jedoch weiterhin als Teilnehmerin jenes »gemeinschaftlichen kriminellen Unternehmens«, dem eben solcher Völkermord vorgeworfen wird. ND/-ries
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