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Wer will schon reich und berühmt sein?
Sunshine Barry & Die Discowürmer von Thomas Borch Nielsen
Ohrwürmer sind es nicht gerade, die die Truppe da spielt. Für etwas angejahrte Discomusik muss man einen Nerv haben. Aber die Bandmitglieder sind ja selbst Würmer, bekannt übrigens für ein hochentwickeltes Nervensystem. Sie zupfen auf der Gitarre, klimpern übers Keybord, sitzen am Schlagzeug und die Leadsängerin lässt – ähnlich Oskar Matzerath – mit Gesang selbst Glas zerspringen. Sie können gar tanzen wie John Travolta, nämlich den berühmten Twist mit Uma Thurman in »Pulp Fiction« und ... – Wie, bitte? Arm- und Beinlose greifen in die Saiten, in die Tasten, sind Virtuosen an den Drums und elektrisieren die Massen mit kultigen Gesten? Muss wohl so sein, da Wollust ward dem Wurm gegeben, laut Schiller, dass – wie umgekehrt mancher Mensch sich als ein armes Würmchen fühlt – die Wurmgesellschaft eine menschenähnliche ist. Zumindest beim dänischen Regisseur Thomas Borch Nielsen hat sie, im wahrsten Sinne, Hand und Fuß.
Nielsen, Liebhaber der Wirbellosen, animierte seine Animateure zu harter Arbeit, dass die – unverdient – bei Unsereinem in der Regel nicht so beliebten Lebewesen zu liebenswürdigen Trickfiguren und den überraschendsten der Animationsfilmgeschichte wohl überhaupt wurden. Der Regisseur ist ein Regenwurmfan, vor allem ein Menschenfreund und hat seine Geschichte offenbar allen gewidmet, die das Leben als Underdog wurmt.
Die Hauptfigur seines Films ist der junge Barry, den ein realistischer Blick auf seinen gesellschaftlichen Status auszeichnet: »Alles, was ich kann, ist kriechen und Dreck fressen.« Barry lebt unter der Erde in einer mittleren Kleinstadt an der Straße namens Wurmpfad im Haus seiner Eltern. Der trotzige Trautes-Heim-Spruch »Hole Sweet Hole« (Loch, süßes Loch) hängt gemütlich überm Sofa. Seine (Wurm-)standesbewusste Mutter – sie ist das unanfechtbare Oberhaupt der Familie, auch dank Rück- und Einsicht fordernd zum Einsatz gebrachten Asthmasprays – Barrys Mutter also sieht ihren Einzigen es schon vom Sachbearbeiter im Kompostbusiness zum mittleren Management bringen. Doch der, den die Insekten im Garten für eine Loser halten und ihn das spüren lassen, wird zu einem Ausbund an Temperament und Optimismus, als er per Zufall die mitreißende Kraft der Musik erfährt. So beschließt er blitzschnell, die Langweiligkeit seines Jobs in einem kafkaesken Büro hinter sich zu lassen und sich eine Zukunft im Spotlight der Bühne zu organisieren.
Eine Karriere im Showbiz, welcher junger Mensch – sehnsuchtsangestachelt vom Fernsehen – träumt nicht vom ruhmversprechenden Erfolg beim Song-Contest? Da stehen die »Kastelruther Kakerlaken« oder der vierarmige, samtstimmige, siegessichere Käfer im Wettbewerb mit den Eintagsfliegen (vorab gesagt und verraten: Letztere werden aufgrund Bestechung der korrupten Mistkäfer-Jury als Gewinner ausgegeben).
Würmer allerdings sind im Musikwettbewerb nicht zugelassen. Trotzdem versucht Barry das scheinbar Unmögliche: Heimlich stellt er also, mit sich als Lead-Sänger, eine Disco-Band zusammen. Begeistert seinen anfangs skeptischen, dicken Freund Tito, der mit Schlankheitswunder versprechendem »Schleim-Line« gegen seinen Kummerspeck ankämpft, engagiert seine Angebetete, die schöne Gloria, die aber so gar keine Stimme hat, gewinnt Jimmy, einen leidenschaftlichen, leider abgehalfterten Heavy Metaler, der aber für eine Gitarre in der »Hand« auch unter sein Metal-Niveau geht. Und erstaunlicherweise stößt noch Barrys Chefin Donna zu ihnen, die im Hinterhof einer Disco aufwuchs, daher den Takt angeben kann und es richtig »grooven« lässt.
»Wir versuchen es trotzdem!« ist Barrys Leitspruch, der ihn alle Hemmnisse – und die sind zahlreich – überwinden lässt. Schließlich hat er ein für allemal genug davon, am »Ende der Nahrungskette« zu stehen. »Ich bin stolz, ein Wurm zu sein! Nichts hält uns auf!« Und dazu werden sie – auf der Tonspur – angefeuert von Village People, von ihrem Song »Y.M.C.A.«: »Young man, there's no need to feel down. I said, young man, pick yourself off the ground ...«
So kommt es denn auch. Und das Publikum ist vom Auftritt der »Disco-Würmer« hingerissen, tobt vor Begeisterung. Doch, wie gesagt, die Schmiergeld-Jury entscheidet anders. Immerhin, Gloria spricht es aus: »Wir hatten Spaß, wer will denn schon reich und berühmt sein – wir haben die Leute zum Tanzen gebracht!«
Der Zuschauer ist von Anfang an eins, zwei, drei so in die knallbunte, temporeiche, spannende Geschichte voller origineller gestalterischer Ideen und vielfältiger Anspielungen verwickelt, dass er seinen Wurmvorbehalt schnell vergisst, über den herrlichen Situations- und Wortwitz lacht, sich bedrückt fühlt angesichts Intrigen, Bosheit und Ungerechtigkeit der Nicht-Würmer. Die Sponti-Botschaft, so simpel sie ist, kommt an: Außenseiter, Abgeschobene – »Unterschicht« eben –, ihr habt keine Chance, aber nutzt sie! Glaubt an euch! Und an die Kraft freundschaftlichen Zusammenhalts.
Die Stimmen übrigens, die sonst Synchronfassungen gegenüber dem Original arg beschädigen, passen hier perfekt: der Sänger Ben, Sarah Tkotsch, Dirk Bach, Hella von Sinnen, Herbert Feuerstein und, als Krönung der Charakterstimmen: Roberto Blanco.
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