Am Schock der Haft gebrochen
Immer wieder nehmen sich Jugendliche im Gefängnis das Leben
Der Selbstmord des 20-Jährigen, der wegen versuchter Erpressung des Internet-Netzwerks Schüler VZ in Berliner Untersuchungshaft saß, ist keine tragische Ausnahme. Mehr als die Hälfte der jährlich rund 100 Suizide in bundesdeutschen Gefängnissen passieren in dieser Zeit der U-Haft. Oft sogar in den ersten sieben Tagen hinter Gittern. Bis heute sind die Haftbedingungen für U-Häftlinge zum Teil härter als für Strafgefangene, obwohl sie noch nicht verurteilt sind bzw. als unschuldig gelten.
Zehn Tage saß der aus dem bayrischen Erlangen stammende Mann in der Berliner Jugendstrafanstalt Plötzensee. In der Nacht zum Sonntag erhängte er sich in seiner Zelle mit einem Laken. Er ist der siebente Mensch, der sich dieses Jahr in einem Berliner Gefängnis das Leben nahm, knapp 30 haben es versucht.
In der Justizverwaltung heißt es, »wir tun alles, um so etwas zu verhindern«. Bei der Aufnahme werde gezielt überprüft, ob jemand suizidgefährdet ist. »Dieser Mann war aber komplett unauffällig«, gibt der Justizsenatssprecher die Grenzen dieses Schnell-Checks zu bedenken. Auch mit der besten Prophylaxe könne man solche Fälle nicht verhindern. 610 Menschen sitzen derzeit in Berlin in U-Haft, 60 in der Jugendstrafanstalt.
Der »Haftschock«, wie man das Gefühl nennt, plötzlich aus dem bisherigen Leben gerissen zu sein, ist ein bekanntes Problem. Rechtsexperten fordern deshalb seit Jahren eine umfassende Reform der Untersuchungshaft. Dennoch gab es abgesehen von einigen Generalklauseln in der Strafprozessordnung bis zu diesem Jahr keine genauen Vorschriften, wie die Haft für die bundesweit rund 13 000 Untersuchungsgefangenen auszusehen hat. Diese wird als besonders belastend empfunden, weil ihre Dauer meist ungewiss ist und Vollzugslockerungen fehlen. Unter Umständen sind die Betroffenen 23 Stunden in ihrer Zelle eingeschlossen. Die Justizverwaltung widersprach jedoch Mediendarstellungen, wonach das bei dem jungen Mann der Fall gewesen sei. Er sei mehrere Stunden täglich in Gesellschaft gewesen.
Seit 2006 bestimmen die Bundesländer über das »Wie« der U-Haft. Die meisten erarbeiten mittlerweile erstmals gesetzliche Vorgaben. In Berlin läuft derzeit die Beratung im Rechtsausschuss. So sollen Untersuchungsgefangene künftig arbeiten, ihre Zellen mit privaten Gegenständen ausstatten und ihre eigene Kleidung tragen dürfen. Und sie könnten etwas länger Besuch empfangen – Erwachsene zwei Stunden im Monat, Jugendliche vier. Dem Deutschen Anwaltverein (DAV) geht das noch nicht weit genug: Vor allem die Kommunikationsmöglichkeiten wie Telefon und Internet müssten ausgebaut werden, um der Unschuldsvermutung Rechnung zu tragen, erklärt Strafrechtsexperte Stefan König.
In der Kritik stehen jedoch nicht allein die Haftbedingungen, sondern auch die Häufigkeit der Anordnung. Die Zahlen gingen zwar zurück, »aber noch immer wird U-Haft zu oft und zu leichtfertig verhängt«, so König. Das größte Problem sieht er bei den Haftrichtern. Deren Vorstellung, was es bedeutet, in U-Haft zu sitzen, sei oft unterentwickelt.
Für den Haftbefehl gegen den mutmaßlichen Schüler-VZ-Erpresser berief sich die Staatsanwaltschaft auf Fluchtgefahr, weil eine Strafe von fünf Jahren Gefängnis möglich sei. König kritisiert das Vorgehen, überzogene Strafvorschriften an die Wand zu malen, um U-Haft zu begründen. Nicht selten werden U-Häftlinge schließlich gar nicht zu einer Freiheitsstrafe verurteilt, haben aber trotzdem über Monate im Knast zugebracht. Gerade erst wurde in Berlin eine 21-jährige Frau aus der U-Haft entlassen, die versucht haben soll, ein Auto in Brand zu stecken. Nach fünf Monaten Gefängnis stellte ein Gericht fest, das die vorliegenden Beweise nicht ausreichten, um den dringenden Tatverdacht zu begründen. Vermutlich wird sie freigesprochen. Auch im Falle des 20-Jährigen wäre eine Geld- oder Bewährungsstrafe wahrscheinlich gewesen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.