Kaum Ärzte im Pflegeheim
Berliner Modellversuch will medizinische Betreuung verbessern
Die Prüfer des Medizinischen Dienstes der Krankenkassen (MDK) haben 68 Prozent der deutschen Alten- und Pflegeheime für deren Qualität insgesamt ein »gut« und »sehr gut« bescheinigt. Speziell für die medizinische und pflegerische Versorgung aber gab es für 17 Prozent der 1057 untersuchten Heime ein »mangelhaft« oder »ausreichend«.
Deutliche Mängel in 17 Prozent der Fälle – das betrifft 165 Heime mit Tausenden von Bewohnern und es stellen sich für diese viele Fragen: Wie sieht es mit der Dekubitus-Vorsorge aus, der Zahnpflege, der Hygiene? Wie ist es darüber hinaus um das rein Medizinische bestellt, also das Verordnen von Arzneien, das Gespräch mit einem Arzt, um aktuelle Blutwerte? Wer überprüft kritisch und kompetent den Mix von Arzneien, den viele Ältere bekommen? Für Heime mit Demenzkranken gab es für diesen wichtigen Teil der Betreuung sogar in 192 Fällen schlechte Noten.
Für kranke und behinderte Heimbewohner ist es sehr schwierig, in die Sprechstunde eines Arztes zu kommen oder von ihm besucht zu werden. Der einfache Grund: Nur in fünf Prozent der Heime gehört nach einer Untersuchung der Stiftung »Daheim im Heim« ein Arzt zum Personal. In den vielen Fällen, in denen ärztlicher Kontakt dringend ist, müssen die Bewohner mit viel Aufwand und Planung in Praxen gebracht werden – oder darauf hoffen, dass Ärzte zu ihnen kommen. Das aber passiert nur selten; manche Praktiker sind zu Hausbesuchen nicht bereit. So kam die Stiftung zu dem Befund, »dass eine nicht geringe Zahl der Versicherten von ärztlichen Leistungen teilweise oder fast ganz ausgeschlossen wird«.
Ausgerechnet dort also, wo es die weitaus meisten Kranken gibt, sind Ärzte kaum greifbar. Was für Krankenhäuser, Rehakliniken, ja sogar für Haftanstalten selbstverständlich ist – nämlich dort angestellte, schnell erreichbare Ärzte, gilt nicht für Alten- und Pflegeheime. Selbst Reedereien müssen auf ihren Schiffen für einen Arzt sorgen, sobald mehr als zwölf Passagiere mitreisen – und seien die noch so fit.
Die Forderung nach Heimärzten, wie sie in der Schweiz und den Niederlanden tätig sind, wird auch hier in Deutschland immer wieder erhoben, auch wenn das Thema generell kaum Aufmerksamkeit erregt. Im März 2009 meinte Bundesgesundheitsministerin Ulla Schmidt (SPD), dass »ein Allgemeinmediziner mit geriatrischer Ausbildung in jede Einrichtung gehört«. 2007 hatte sie sogar verlangt, Heimärzte gesetzlich vorzuschreiben. Das Diakonische Werk stimmte ihr zu. Auch der als Pflegekritiker bekannte Claus Fussek plädiert in seinem neuen Buch »Im Netz der Pflegemafia« dafür.
Die meisten niedergelassenen Mediziner wollen davon allerdings nichts wissen, zumal Heimbesuche mit durchschnittlich etwa 33 Euro schlecht honoriert werden. Auch Hartmannbund und NAV-Virchow-Bund reagieren ablehnend. Zahlreiche Heimbetreiber segeln ebenfalls auf Contra-Kurs; sie befürchten hohe Kosten. Der Frankfurter Heimleiter Michael Graber-Dünow meint, der Ruf nach Heimärzten führe in eine falsche Richtung; solche Stellen würden die »wünschenswerte Normalisierung des Heimlebens« erschweren. Heimärzte seien eine Einschränkung der freien Arztwahl, lautet ein weiteres, häufig angeführtes Gegenargument. Doch niemand fordert, dass Heimbewohner nur von ihnen behandelt werden. Zudem ist auch in Krankenhäusern und bei Notärzten die Wahl eingeschränkt, ebenso auf Kreuzfahrtschiffen.
Ein Modellversuch zeigt indessen, dass Heimärzte Millionen Euro einsparen helfen, etwa weil teure Notarzteinsätze und Klinikeinweisungen vermieden werden. »Care plus – Medizinisch betreute Pflege« ist ein von der AOK Berlin initiiertes Programm, an dem auch andere Krankenkassen teilnehmen. Zu seinen Standards gehören eine wöchentliche ärztliche Visite und eine telefonische 24-Stunden-Rufbereitschaft von Ärzten. Pflegekräfte, Therapeuten und Ärzte arbeiten in den beteiligten Einrichtungen Hand in Hand, um eine bessere Qualität der Versorgung in Pflegeheimen zu gewährleisten.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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