Meine vier Mütter

Stefanie-Lahya Aukongo erinnert sich

  • Silvia Ottow
  • Lesedauer: 2 Min.

Für die elfjährige Steffi aus dem Berliner Prenzlauer Berg fiel am 9. November 1989 keine Mauer. Sie besaß außer ihrem Sozialversicherungsdokument nichts, was sie als DDR-Bürgerin auswies und traute sich erst zwei Jahre später in den Westen. Ein Jahrzehnt hatten das kleine Mädchen namibischer Abstammung und ihre deutschen Pflegeeltern Unauffälligkeit zu ihrem Lebensprinzip gemacht – soweit das für Eltern um die 60 mit einem Kind schwarzer Hautfarbe mitten im Osten Berlins irgendwie ging.

Das Kind war noch im Bauch seiner Mutter in einer großartigen Solidaritätsaktion der DDR aus dem südafrikanisch-namibischen Krieg nach Berlin ausgeflogen worden. Hier konnte die Mutter gepflegt, das Kind geboren werden. Eine Solidarität, die Stefanie-Lahya Aukongo in ihrem Buch »Kalungas Kind« nicht müde wird zu betonen, und die sie heute vermisst. »Wie die DDR mein Leben rettete« heißt der Untertitel ihrer Lebenserinnerungen. Aus Dankbarkeit gibt Mutter Clementine dem Kind bei der Geburt den Namen der deutschen Krankenschwester, die sie pflegte. Später stimmt sie zu, ihr Baby in Berlin zu lassen.

Die kleine Steffi ist gehbehindert. Ein Geschoss der südafrikanischen Soldaten, die gegen die namibische Befreiungsbewegung kämpften, hatte ihre Mutter bei einem Angriff auf das Flüchtlingslager Cassinga getroffen und das Ungeborene gleich mitverletzt. Schwester Petra holt das kleine Häufchen Unglück nach langen Kämpfen mit den Behörden zu sich nach Hause. Sie wird Steffis zweite Mutter, ihre Schwester die dritte und die Mutter der beiden die vierte. Für alle Beteiligten beginnt ein Lebensabenteuer, denn Steffi ist DDR-Bürgerin auf Abruf. Einmal wird sie noch als Baby zurück zu ihrer Mutter nach Namibia geschickt. Von dort darf sie, schwer gezeichnet und kränker als je zuvor, zurückkehren – nach Intervention der Pflegefamilie beim Solidaritätskomitee und Margot Honecker. Man schärfte der Familie ein, das sei eine Ausnahme.

Die Ausnahme wird ein fröhliches DDR-Kind, das mit Aurora Lacasas Weihnachtsliedern und dem Pioniergruß aufwächst. Erst nach mehreren Besuchen bei ihren namibischen »Müttern«, deren Land 1989 von Südafrika unabhängig wird, macht sie sich auf die Suche nach den afrikanischen Wurzeln. Stefanie trifft ihre Tante Lahya, ihre aidskranke Mutter und ihren Vater. Sie lernt die Großmutter lieben, deren Sprache Oshiwambo sie nicht versteht, von deren Gott Kalunga sie nie hörte und deren Mopane-Würmer sie nicht essen möchte. Ihr Leben – seit 2005 als deutsche Staatsbürgerin – bekommt eine neue Dimension.

Stefanie-Lahya Aukongo: Kalungas Kind. Wie die DDR mein Leben rettete, Rowohlt Taschenbuch Verlag, 253 S., brosch., 12 €.

Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.

Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.

Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.

Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.

- Anzeige -
- Anzeige -