Zweifelhafte Tradition in Mittenwald
Jennifer Gronau analysiert die Debatte um die Gebirgsjäger
»In der Kleinstadt des Henkers nach dem Strick fragen« Angehörige des Netzwerks »Angreifbare Traditionspflege« seit 2002 im bayrischen Mittenwald. Dort treffen sich seit 1957 ehemalige »Gebirgsjäger« der Wehrmacht zu Aufmärschen am Hohen Brendten, toleriert und unterstützt von der Bundeswehr. Diese ist neben dem Tourismus der bedeutendste Wirtschaftsfaktor in der Gegend. Den Aktivitäten und Gedenkpraktiken dieser Akteure widmet Jennifer Gronau ihr Buch »Auf blinde Flecken zeigen«.
Der Kameradenkreis der Gebirgstruppe wurde 1952 von ehemaligen Angehörigen der Gebirgsjägerdivisionen der Wehrmacht gegründet. Die zahlreichen Kriegsverbrechen der Truppe werden – unter Kameraden – bis in die Gegenwart verschwiegen und geleugnet. 40 Prozent der heute noch über 6000 Mitglieder des Kameradenkreises sind ehemalige Wehrmachtssoldaten, die Übrigen vor allem ehemalige und aktive Bundeswehrsoldaten. Kriegsverbrecher wurden nie ausgeschlossen. Mit Hubert Lanz, dem vormaligen General der Gebirgstruppe, stand dem Kameradenkreis 30 Jahre lang ein in Nürnberg verurteilter Kriegsverbrecher als Ehrenvorsitzender vor.
Ende der Beschaulichkeit
Die öffentliche Debatte, die Gronau verfolgt, wurde durch die antifaschistischen und antimilitaristischen Proteste überhaupt erst ausgelöst. Bis 2002 pflegten die Gebirgsjäger in der Gemeinde Mittenwald ungestört ihr Erbe. Das Netzwerk »Angreifbare Traditionspflege« machte schließlich mit Demonstrationen, Hearings, Straßentheater oder Leserbriefen auf die zweifelhafte Geschichtspolitik aufmerksam. Die lose vernetzte Kampagne arbeitet daran, dass noch vor dem Ableben von NS-Tätern juristische Verfahren eingeleitet werden. Sie benennt Kriegsverbrecher aus der Gebirgstruppe, stört ihr alljährliches Pfingsttreffen und stiftet Unruhe in der touristischen Beschaulichkeit. Seit 2007 findet das Treffen deshalb nicht mehr zu Pfingsten statt. 2009 errichteten AktivistInnen in Mittenwald im Beisein von NS-Überlebenden ein Denkmal für die Opfer der Gebirgsjäger, das allerdings von der Gemeinde entfernt wurde.
Die lesenswerte Untersuchung verleugnet nicht, dass sie zunächst als Diplomarbeit entstand. Gut daran ist, dass es der Bremer Wissenschaftlerin mehr um Analyse als um Anleitungen für die Protestbewegung geht. Auf die wenig lesefreundlichen diskurstheoretischen Betrachtungen hingegen könnten politisch Interessierte ohne Verständnisverlust verzichten. Gronaus Verdienst liegt in ihrer Aufmerksamkeit für den öffentlichen Streit, dafür, wie politisch Bewegte Debatten initiieren und darin auftreten. Sie zeigt, wie zunächst Fernstehende beginnen, sich politisch zu artikulieren, gerade in der regionalen Presse. Aktuelle Forschungsergebnisse über Kriegsverbrechen der Gebirgsjäger, Hintergründe zu den Traditionsbestimmungen der Bundeswehr und die Spezifika der Gemeinde Mittenwald ergänzen den Blick auf die »blinden Flecken« des Kameradenkreises. Von einer tieferen Auseinandersetzung mit Möglichkeiten und Grenzen aufklärerischer Debatten, mit Bündnispolitik und Netzwerken könnten Impulse für die disparate militärkritische Bewegung ausgehen.
Jennifer Gronau: »Auf blinde Flecken zeigen«, BIS-Verlag Oldenburg 2009, 176 Seiten, 10,90 Euro.
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