Komm zurück in deine wahre, echte Biografie!
Countertenor JOCHEN KOWALSKI über Montagabend-Filme, Operetten, die Russen und die Wahrheit der Schlager
ND: Jochen Kowalski, können Sie Blut sehen?
Kowalski: Na klar, die obligate Frage an den Sohn eines Fleischers.
Auch Joschka Fischer und Uli Hoeneß haben derartige soziale Wurzeln.
Aus denen sind ebenfalls Künstler ihrer jeweiligen Sparte geworden.
Der eine hat Steine geschmissen, der andere fing früh mit dem Fußballspielen an.
Beides war mein Ding nicht. Die Mitschüler tippten sich an den Kopp: Kowalski spinnt! Ich wollte von früh an spielen, tanzen, singen. Ich konnte mich weder fürs Angeln noch für Fußball begeistern. Die Fügung meines Lebens.
Wir lenken nicht, wir werden gelenkt?
Wir könnten keine wirkliche Freiheit empfinden, wenn wir uns nicht in der Illusion wiegen würden, unser Wille versetze Berge. Aber das Wissen um diese Illusion ist schon ein entscheidender Teil der Freiheit.
Freiheit ist Einbildungskraft.
Na, jedenfalls wollte es der Zufall, dass ich mit vierzehn einen Schallplattenspieler geschenkt bekam. Und nur noch Tauber, Lorenz und Wunderlich hörte. Ich denke heute manchmal, dass damit mein Leben besiegelt war. Natürlich wusste ich das nicht. Aber es ist schon toll, wie man eine Chance ergreift, ohne von ihr zu wissen. Ich habe ganze Arien mitgesungen, auch die Montagabend-Filme des DDR-Fernsehen waren meine erste Universität.
Herr Kowalski, was bleibt von der DDR?
Ihre Menschen. Ich finde, dass jeder Ostdeutsche von einer Aura umgeben ist, die Westdeutsche noch nicht wahrhaben wollen. Noch nicht. Es ist die Ausstrahlung von Menschen, die ein Scheitern erlebt haben. Nach dem Krieg gab es diese Aura von Leuten, die durch das Grauen, die durch Not und Elend gegangen waren. Das prägt eine Gesellschaft, gerade dann, wenn alles besser wird, das bleibt wie eine Mahnung in den Lüften hängen, jedenfalls für eine Weile.
Und nun ist das wieder so?
Auf andere Art. Jetzt, schon lange im Frieden, gibt es diese Niederlage, die aus dem Osten kam, diese biografischen Brüche. Das wurde eine Weile nicht wahrgenommen als Aura, weil sich der Westen mit seiner Erfolgsbiografie drüberstülpte. Aber jetzt, mit den Verwerfungen des globalen Zeitalters, wird auch der Westen nervös an seiner wohlgenährten Seele. Die Aura des Ostmenschen wird ihre Kraft wohl noch ausstrahlen.
Sie haben sich dagegen gewandt, als Interpret zu gelten. Ein Sänger ist ein Interpret!
Ja, ich verzichte aber nicht darauf, eine gewisse Bescheidenheit zu behaupten. Es gibt den Komponisten, und es gibt den Sänger – der sich dem Werk unterzuordnen hat. Ich verstehe mich als Diener eines Werkes, das Theater ist für mich kein Umformbetrieb, sondern eine Stätte der Wurzelgrabungen, die ohne Demut nicht zum Ziele führen.
Man begegnet einem Meister nie ebenbürtig?
Doch, wenn unsere Bewunderung mit dem höchsten Glück unserer Begabung zusammentrifft. Aber es ist selten, einem Komponistengenie ebenbürtig zu begegnen, es wird immer nur eine scheinbare Ebenbürtigkeit sein, weil wir es sind, die eingewiesen werden, in einen geheimen Weg gewissermaßen.
Sie sind geprägt von Regisseur Harry Kupfer. Ein Erbe, an das Sie erinnern und mit dem Sie vielleicht auch manchen stören. Machen Maßstäbe einsam?
Ja, ich bin zum Beispiel Ensemblemitglied der Komischen Oper, lebe aber in dem Zustand, seit Jahren kaum mehr an »meinem« Opernhaus zu spielen.
Man sagt Ihnen, es fehlten die Rollen fürs Fach?
Ich wüsste welche. Und das habe ich dem Haus auch mitgeteilt.
Und?
Ich singe Oper in Wien.
Sie kommen damit zurecht?
Ich suchte mir in jeder stagnativen Situation neue Felder. Ich gebe klassische Liederabende, singe Swing und Jazz und gestalte mit Dieter Mann einen musikalisch-literarischen Abend. Ich habe mir vor allem nie diese künstliche Grenze zwischen Unterhaltungs- und ernster Musik aufgebaut.
Sie lieben Schlager.
Der Schlager sagt – im besten Falle – wahr. Auch mit seinem Grundgesetz: Eine schöne Illusion ist mitunter besser als eine hässliche Wahrheit. Im Schlager schaukeln wir uns hinaus aus der Realität, aber wir genießen in ihm auch den Schmerz.
Haben Sie einen Lieblingsschlager?
»Roter Mohn, warum welkst du denn schon ...« Ein Schlager, der sich mit dem beschäftigt, was uns doch, ehrlich gesagt, verrückt machen kann: dass die schönsten Dinge, dass überhaupt das ganze Leben verwittert, verwelkt, abstirbt.
Beschäftigen Sie sich mit dem Tod?
Jede Kunstausübung ist ein Aufstand gegen den Tod, gegen den Schmerz, weil jede Kunst einzig nur aus dem Schrei gegen die Verluste entsteht.
Die Aussage passt nicht zu einem Ihrer grandiosesten, berühmtesten Couplets – zu dem des Grafen Orlofsky in der »Fledermaus«.
Das nannte ich immer meine Schicksalspartie.
»Ich lade gern mir Gäste ein.«
Wenn man Lebensfreude, Menschenzugewandtheit nicht trennt von Zeit und Raum, ist das ein gewaltiger Protestsong gegen Vereinzelung, Abschottung, Selbstisolierung und Kontaktarmut. Sie müssen sich doch nur vorstellen, wie viele Menschen aus wie vielen Motiven heraus so ein Lied nicht in die Welt schmettern könnten … schon ist das heitere, schwerelose Operettchen auf direkte Weise geerdet.
Was ist Musik?
Gott hat kein Gesicht, aber wenn man Bach hört, weiß man, dass Gott einen Klang hat.
Ist Bach Ihr Lieblingskomponist?
Wer würde das nicht bejahen! Aber ich nenne auch Rimski-Korsakow, Tschaikowski und Glinka.
Sie lieben die Russen.
Oft bin ich in Moskau, in St. Petersburg. Ja, die Russen … Es gibt dort seelentief das, was eigentlich gar nicht zusammenpasst und wofür es trotzdem ein Wort gibt: Leidens-Kraft.
Nochmal zu dem, was man Ihre offene Distanz zur Marktschreierei des Kunstbetriebes nennen könnte …
Es geht wahrscheinlich um ein generelles Lebensproblem der kapitalistischen Gesellschaft. Die Freiheit erweist sich als Verbannung, du wirst daran gewöhnt, überall nur Konkurrenten zu sehen, das brachte die Bindungen in Verruf, den Gemeinsinn. Man möchte gern zu irgendetwas dazugehören, man möchte aufgehen in einer Gemeinschaft, aber du wirst nur immer gewarnt, bloß nicht in die kollektive Falle zu tappen. Für nichts ist mehr Ruhe, Zeit und die nötige Freiheit von Druck da. Man hat Angst, nicht mehr besetzt, gar entlassen zu werden, die Menschen sind in einem erbärmlichen Maße damit beschäftigt, sich wichtig und unentbehrlich zu machen. Das ist doch irre: Alle fühlen sich frei, und jeder geht zum Psychiater.
Sie auch?
Nein, ich singe.
Mit welcher Botschaft?
Jedes Kunstwerk will, indem es von der Erfahrung eines Schmerzes ausgeht, eine Rettung anstoßen. Indem es dem Menschen sagt: Besinn dich, komm zurück in deine wahre, echte Biografie.
Singen Sie auch Frauenlieder?
Nein, nur das, was für Männerstimmen geschrieben wurde.
Sie waren zu DDR-Zeiten ein Weltreisender. Wollten Sie das Land je verlassen?
Nein, denn ich war Weltreisender.
Kein anderes Motiv?
Ich lebte mit den Unzufriedenheiten aller Leute in der DDR, aber ich übte einen Beruf aus, der ein unvorstellbares Privileg war. Ich wurde nicht zensiert, ich wurde nicht verboten, ich wurde nicht ideologisch bedrängt. Und wenn was passierte, ging's glimpflich aus, weil meine Unbedarftheit bekannt war. Mit Händels »Giustino«, ich spielte die Hauptrolle, gastierte die Komische Oper in München, Mitte der achtziger Jahre. Es war ein toller Erfolg, fast vierzig Minuten Schlussapplaus, und beim anschließenden Empfang wurde mir gratuliert, und einem der Herrn, die mir enthusiastisch die Hand schüttelten, sagte ich: »Wissen Sie was, ich finde das so toll hier in München – ich würde am liebsten hierbleiben.« Der Mann blickte plötzlich total zubetoniert, es war der Botschafter der DDR in der BRD.
Ich finde, Sie haben sich wunderbar respektlos gegen Sänger geäußert, die auf Ihrer Stimmlage den Trittbrettfahrer machen.
Was habe ich denn gesagt?
Asexuelles Gesäusel.
Stimmt doch.
Theo Adam sagte zu Ihnen: »Mit der Stimme machst du eine Weltkarriere.« Er hatte recht. Hilft so etwas gegen die Exotik Ihrer künstlerischen Existenz?
Sie drücken das aber schön aus! Ich hoffe nicht, dass Sie eigentlich fragen wollten, ob ich ein Kastrat sei … Ich muss ums Publikum kämpfen, nach wie vor. Ich muss erobern. Und ich muss Veranstaltern oder Auftraggebern mitunter noch immer deutlich machen: Ich arbeite nicht in der Travestiekunst.
Welches war das bedrückendste Erlebnis nach dem Ende der DDR?
Ich denke ungern in solchen Kategorien. Aber bedrückt hat mich schon, dass der erste gesamtdeutsche »Kammersänger«-Titel an der Komischen Oper mit monatelanger Prüfung meiner Stasi-Akte verbunden war.
Die Frage, ob Sie Blut sehen können, haben Sie übrigens noch nicht beantwortet.
Ich mag Menschen, die das, was sie machen, mit aller Kraft umzusetzen versuchen. Nicht halb, sondern ganz. Vielleicht antworte ich so auf Ihre Frage: Ich will bei einem Menschen bei dem, was er tut, das Herzblut sehen.
Interview: Hans-Dieter Schütt
JOCHEN KOWALKSI, geboren 1954 in Walchow bei Potsdam: weltberühmter Countertenor. Regisseur Harry Kupfer – mit dem Ohr des Entdeckers – holte den Musikstudenten 1982 aus dem Chor der »Meistersinger« in eine Sololaufbahn. Männliches Altfach – entgegen seines eigentlichen Traums vom Wagner-Tenor. Rollen in Opern von Händel, Mozart, Gluck, Rossini, Britten, Monteverdi – Gastspiele von Salzburg bis New York. Kowalski ist der große, natürlich freche, berlinische Junge geblieben, im Gespräch absolut unaufgeputzt, ein Künstler hohen Tons, aber mit Bodenhaftung.
Am 21. November im Theaterforum des Gutes Klostermühle in Alt Madlitz: Premiere von Schuberts »Winterreise« – Kowalski nennt den Liederzyklus ein »Göttergeschenk«, dementsprechend seine »Fürchtigkeit«. Wahre Kunstausübung: Bewältigung einer Aufgabe durch Demut ...
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