Putins Bürgersprechstunde
1,3 Millionen Fragen zu Renten und Ärzten, Lada und Wodka
Wer freies Kapital hat, täte gut daran, in Russland zu investieren. Zum Beispiel in die Infrastruktur von Sotschi, wo 2014 die Olympischen Winterspiele stattfinden. Wladimir Putins Wink mit dem Zaunpfahl war unmissverständlich. Er galt Russland gesamter goldener Horde. Konkret hatte der Regierungschef allerdings den Multimilliardär Telman Ismailow im Blick. Der hatte im Mai im türkischen Antalya das mit Abstand teuerste Hotel an der gesamten Mittelmeerküste eröffnet, das Geld dafür aber auf dem skandalumtosten und inzwischen geschlossenen Tscherkisow-Großmarkt in Moskau verdient.
Die Frage, wie mit Ismailow und Konsorten zu verfahren sei, war eine von insgesamt knapp 1,3 Millionen, die Putin vor und während seiner über dreistündigen Bürgersprechstunde am Donnerstag zugingen. Sie wurde vom russischen Fernsehen übertragen, es gab dabei Konferenzschaltungen in acht Städte. Auch das Studio in Moskau war gerappelt voll, unter den Zuschauern waren viele hochrangige Beamte und Vertreter der sogenannten Kaderreserve: junge Verwaltungsexperten, die an staatlichen Elitehochschulen darauf vorbereitet werden, Verantwortung zu übernehmen. Parallel dazu arbeitete ein Call-Center, wo schon vor Beginn der Bürgersprechstunde 16 000 SMS, mehr als 600 000 E-Mails und über eine halbe Million Anrufe eingegangen waren. Die Telefone klingelten sich noch während der Sendung heiß. Zeitweilig registrierten die Mitarbeiter bis zu 3000 Anrufe pro Minute.
Es war bereits Putins achte Bürgersprechstunde. Er selbst hatte sie, als er noch Präsident war, ins Leben gerufen und mit Präsident Dmitri Medwedjew offenbar auch bei derartigen Auftritten eine Art Arbeitsteilung vereinbart. Der Kremlchef nutzt für die Kommunikation mit der Nation vor allem das Internet und andere neue Medien, sein Ministerpräsident, der zu diesen ein distanziertes Verhältnis haben soll, das Fernsehen. Damit allerdings erreicht er ein ungleich größeres Publikum. Abgesehen von Großstädten, hat bisher in Russland nur jeder zehnte einen Internetzugang und oft nur über eine langsame analoge Telefonverbindung.
Auch Alters- und Einkommensstruktur beider Gruppen und damit deren Befindlichkeiten und Probleme sind sehr unterscheidlich: Putins Anhängerschaft ist die Generation 50 plus, ihre Fragen drehten sich am Donnerstag daher vor allem um soziale Belange: Renten, Geburtenbeihilfen, die Zukunft von Städten wie Magnitogorsk im Ural oder Togliatti an der Wolga, wo Stahlwerke und Autohersteller das Arbeitgeber-Monopol besitzen.
Außerdem ging es um Wohnungsnot, wobei Putin wenigstens allen noch lebenden Kriegsteilnehmern bis zum 65. Jahrestag des Sieges im Mai nächsten Jahres eigene vier Wände versprach, um bezahlbare Medikamente und medizinische Versorgung, Trotz Pflichtversicherung müssen die Russen in der Regel jede Handreichung der unterbezahlten Ärzte aus eigener Tasche bezahlen. Heftig kritisierten die Fragesteller zudem die Zustände in Krankenhäusern und Polikliniken. Schwangere, beschwerte sich eine Frau aus dem Ural, müssten bis zu fünf Stunden auf eine Untersuchung warten, und die finde oft auf dem Flur statt.
Viele sprachen sich, weil durch gepanschten Wodka jährlich Tausende zu Schaden kommen, auch für die Rückkehr zum Staatsmonopol für Alkohol aus oder riefen nach protektionistischen Maßnahmen: Schutz vor Importen von billigem chinesischen Stahl oder Staatsaufträgen für Flugzeug- und Autobau.
Dafür zeigte Putin nur begrenzt Verständnis. Um den Lada als Marke zu erhalten, müsse der marode Hersteller Awtowaz zur Weltspitze aufsteigen, was nur mit Partner Renault möglich sei. Auch hätten die Franzosen große Erfahrung mit der Restrukturierung von Betrieben, die dominierende Arbeitgeber ganzer Regionen sind. Eine ähnliche Kooperation sei mit Nissan im Fernen Osten geplant.
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