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Der Blick vom Gipfel
Eine Ausstellung in Berlin würdigt die umfassende Naturschau des Romantikers Carl Gustav Carus
»Organisch« gehört zu den Eindrücken, die haften bleiben, ebenso »verbindend« und »kontinuierlich«. Mit dem Gefühl, reich beschenkt worden zu sein, kann man eine Ausstellung in der Alten Nationalgalerie verlassen, in der die Werke des Carl Gustav Carus zu sehen sind. Carus (3. Januar 1789 bis 28. Juli 1869) war ein deutscher Arzt, Maler und Naturphilosoph.
Neben mehr als zweihundert Gemälden und Zeichnungen zeigt die Ausstellung medizinische Geräte, anatomische Präparate, naturkundliche und anthropologische Exponate sowie Schriften von Carus. Der Ausstellungstitel »Natur und Idee«, so heißt es von den Machern, soll die Pole deutlich machen, zwischen denen sich der Universalist Carus bewegte: »Seiner Arbeit lag ein interdisziplinäres Konzept zugrunde, das die Kunst als Gipfel der Wissenschaft feierte und einen mustergültigen Gegenentwurf zur aufkommenden Spezialisierung im frühen 19. Jahrhundert darstellte.« Carus stand im Kontakt mit Humboldt, Goethe und anderen Größen seiner Zeit.
Die Wahrnehmungen, die uns vermittelt werden, bestimmen, welches Bild der Natur wir uns aneignen. Carl Gustav Carus ist ein Romantiker aus dem 19. Jahrhundert, geprägt von den Idealen seiner Zeit, in der die Newtonsche Mechanik zur Blüte heranreifte und moderne Konzepte der Hochenergiephysik noch keinen Bestandteil der Wirklichkeitsbeschreibungen bildeten. Carus hatte wohl ein Wachstumsbild, das sich als stetig steigend fassen lässt – verzweigt, dennoch zielgerichtet, ohne aber endgültig festgelegt zu sein. Natur hat bei Carus' Darstellungen etwas ungeheuer Konkretes, aber zugleich etwas rein Potenzielles. Das wird besonders in seinen Skizzen sichtbar. Zu den eindrucksvollsten gehört seine sehr differenzierte und schematisch gefasste Idee der Entwicklung der menschlichen Psyche.
Analog zum Wachstum einer Pflanze unterteilt Carus zwischen unterirdisch, unbewusst, und dem sichtbaren Teil. Bewusstsein ist bei Carus ein aufkeimender Prozess, der, wunderschön ausgedrückt, in tiefen Erkenntnissen münden kann. So manche der zeitgenössischen psychologischen Ideen werden in Carus' Schema rudimentär sichtbar. Nicht wenige seiner zahlreichen Ölgemälde, die die Ausstellung zeigt, sind offensichtlich an die Kunst Caspar David Friedrichs angelehnt. Carus mochte wohl die Berge, denn vieler seiner Gemälde zeigen wilde oder romantische Bergwelten. Manche dieser Bilder erscheinen aus heutiger Sicht womöglich kitschig, in einigen aber wird Carus' Stimmungsbild von der Natur überdeutlich.
Carl Gustav Carus, so heißt es, »lädt Natur romantisch auf« – legt Gefühle und Stimmungen hinein. Aber eben genau dieser Blick, der über das nur kurzfristig Funktionale hinausgeht, zeigt den schwingenden, lebendigen Teil der Natur, die Carus als großes zusammenhängendes Wirkungsgefüge zeichnet. So kann man die Ausstellung mit dem Gefühl verlassen, über eineinhalb Jahrhunderte hinweg mit einem lebendigen Geist in Berührung gekommen zu sein, der tief fassend die Makro-Dimensionen der Natur präsentiert, in denen wir uns für gewöhnlich bewegen.
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