Bilanz 2009: Mehr Schein als Sein?
Klimaschutz ist Konsens, doch immer mehr Ökovorschriften werden ignoriert
Am Ende stand das Desaster von Kopenhagen. Der Weltklimagipfel hat die umweltpolitische Debatte des Jahres 2009 in Deutschland, Europa und vielen Weltregionen geprägt. Weil Klimaschutz endlich fast überall auf der Welt zur »Chefsache« wurde, ist die Verbitterung über das Versagen der Staats- und Regierungschefs umso größer. Wer soll es jetzt noch richten – und wie? Es bedarf keiner prophetischer Fähigkeiten zu vermuten, dass das Ringen um den Schutz des »Menschheitsguts Schöpfung« (Bundesumweltminister Norbert Röttgen) vor akuter Überhitzung auch das Umweltjahr 2010 bestimmen wird. Grundfalsch wäre es jedoch, die umweltpolitische Entwicklung des zu Ende gehenden Jahres allein an der klimapolitischen Depression der letzten Tage zu messen.
Aus den Bundestagswahlen am 27. September ging jene Parteienkonstellation als Siegerin hervor, die sich die tendenziell anti-ökologischen Fraktionen der Wirtschaft seit der Wahl der rot-grünen Bundesregierung elf Jahre zuvor zurückgewünscht haben. Und was schreibt Schwarz-Gelb in ihrem Koalitionsvertrag? »Wir wollen den Weg in das regenerative Zeitalter gehen.«
Wirtschaftsminister Rainer Brüderle ist Teil einer Koalition, die verspricht, die Treibhausgasemissionen bis 2020 um 40 Prozent zu reduzieren. Der FDP-Mann steht für ein Regierungsprogramm, das Windrädern und Solaranlagen möglichst schnell den Löwenanteil der Energieversorgung überantworten will – später gar 100 Prozent. Noch 2005 wollte sich der damalige Wahlkämpfer Brüderle schier ausschütten vor Lachen über den »Firlefanz der rot-grünen Windrädchenförderpolitik«. Der Minister – ein Wendehals der Sonderklasse?
Im Dezember 2006 hatte es die Delegiertenmehrheit beim Bundesparteitag der Grünen abgelehnt, unkonditioniert das Ziel »hundert Prozent erneuerbare Energien« zu beschließen. Diese Forderung galt als nicht anschlussfähig in der Mehrheitsgesellschaft. Drei Jahre später verfolgt selbst eine Regierung, die der traditionellen Energiewirtschaft nicht eben feindlich gegenübersteht, das Hundert-Prozent-Ziel. Die Herren in den Chefetagen von RWE und Co. reagieren entsprechend pikiert.
Zwischenfazit: Im Jahr 2009 haben sich nicht nur die Regierungsfarben geändert, sondern auch die Zeiten. Die Energiewende ist Mainstream. Angesichts des Klimawandels, angesichts schwindender Öl- und Gasressourcen, angesichts militärischer Konflikte um eben diese und angesichts der Risiken der Atomenergie wünscht sich eine Mehrheit der Anhänger aller Parteien die Wende hin zu einem zukunftsfähigen, risikoarmen Energiesystem. Und die Politik – als im Kern opportunistische Veranstaltung – folgt mit einigem Abstand.
Leider ist das nur die halbe Wahrheit der Umweltbilanz 2009. Jenseits der Schlagzeilen verstärkt sich ein anderer, prekärer Trend: Immer mehr Umweltregeln werden immer weniger eingehalten. Sie werden ignoriert und umgangen. Und der Staat, der die Regeln zum Schutz von Gesundheit, Natur und Klima erlässt, schaut weg. Er verzichtet, teils aus Kalkül, teils unter Verweis auf die Kassenlage, flächendeckend auf Kontrolle und Sanktionierung der von ihm selbst geschaffenen Regeln. Ob Spritverbrauch oder Abgasbelastung von Pkw, Energiekennzeichnung elektrischer Geräte, Chemiebelastung von Nahrungsmitteln oder Entsorgung umweltschädlicher Stoffe – überall wächst die Kluft zwischen gesetzlichem Anspruch und realer Umsetzung. Wenn umweltpolitische Ziele politisch plakatiert, aber nicht ernsthaft verfolgt werden, muss die Gesellschaft reagieren. Die Deutsche Umwelthilfe versucht das als Umwelt- und Verbraucherorganisation. Sie tut, was Aufgabe der Behörden wäre, mit begrenzten Ressourcen und Kompetenzen. Ein Sisyphos-Alltag.
Nach Kopenhagen verlangen Industrieverbände in diesen Tagen in gewohnter Kurzsichtigkeit die Abkehr Deutschlands von der Vorreiterrolle im Klimaschutz. Die Bundesregierung hat das regenerative Zeitalter auf ihre Fahnen geschrieben – und dann dreierlei angekündigt: Laufzeitverlängerungen für Atommeiler, Neubau von Kohlekraftwerken und einen Sonderabschlag bei der Förderung von Solarstrom.
Es riecht nach einer neuen, tiefen Kluft und noch mehr Arbeit 2010 – nicht nur für Umweltschützer.
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