Gaza-Streifen kommt nicht zur Ruhe
Ein Jahr nach Israels »Operation gegossenes Blei« rechnen viele mit einem neuen Waffengang
Man konnte sehen, dass etwas passieren würde. Schon Ende November 2008 hatten Israels Behörden ausländischen Journalisten die Einreise nach Gaza untersagt. Aus Sicherheitsgründen, sagte die für die Kontrollpunkte zuständige Flughafenbehörde, während draußen, entlang des hohen Grenzzaunes, über Wochen hinweg Tausende von Soldaten samt schwerem Kriegsgerät aufmarschierten, von den Militärzensoren vor allzu aufdringlichen Journalisten geschützt.
Dabei wären damals kritische Fragen durchaus angebracht gewesen, sagt Ofir Pines-Paz, ein Abgeordneter der Arbeiterpartei, die gemeinsam mit dem Likud-Block von Premierminister Benjamin Netanjahu und einer Reihe von rechten Parteien seit diesem Frühjahr die Regierung bildet. »Damals wurden nicht nur die Weichen für das künftige Leben von Zehntausenden von Menschen gestellt, sondern auch die politische Agenda für mindestens das kommende Jahr, wahrscheinlich aber sogar für länger, festgelegt«, erläutert Pines-Paz, »und das von einer Regierung, die mehr Zeit mit der Aufarbeitung von Skandalen und politischen Grabenkämpfen verbrachte, als mit politischen Entscheidungsprozessen.«
Kritiker gibt es heute viele: Im Ausland wird Israel nach wie vor vorgeworfen, dass das Militär mit einer Härte zuschlug, die dem erklärten Ziel von »Operation gegossenes Blei«, den Beschuss des israelischen Umlandes mit Boden-Boden-Raketen aus dem Gaza-Streifen zu unterbinden, nicht angemessen war. In Israel kritisiert die Linke, man habe sich durch die Härte, die sich in der andauernden Abriegelung Gazas fortsetzt, nur mehr Hass auf der anderen Seite geschaffen. Selbst die Lieferung von lebenswichtigen Gütern in ausreichender Menge wird verhindert. Dadurch habe sich Israel mehr und gewaltbereitere Feinde geschaffen und ihnen in den Augen der Weltöffentlichkeit eine Legitimation gegeben: »Die Leute können jetzt sagen, dass sie nicht nur um die Freiheit, sondern ums nackte Überleben kämpfen«, so Pines-Paz, der zu dieser Gruppe der Kritiker gehört.
Israels Rechte hingegen kritisiert, der Krieg sei zu kurz gewesen und habe Hamas nicht wirklich geschwächt: »Die tanzen uns doch jetzt auf der Nase rum«, sagt Hagai Ben-Artz, Schwager von Regierungschef Benjamin Netanjahu und eine der Galionsfiguren des rechten Randes des konservativen Likud-Blocks. In drei oder spätestens sechs Monaten sei deshalb der nächste Krieg notwendig, ist er überzeugt, denn Gewalt und Stärke, das sei die einzige Sprache, die die Palästinenser verstünden.
Die Uneinigkeit über den Umgang mit Hamas sitzt tief, geht selbst durch Parlamentsfraktionen. Sie lähmt Israels Regierungspolitik bereits seit Anfang des Jahres. Damals übernahm nach Neuwahlen der rechtskonservative Netanjahu mit Hilfe einer Koalition die Regierung. Die Frage, wie man mit der Hamas umgehen soll, die zweieinhalb Jahre, nachdem sie die Macht im Gaza-Streifen übernommen hat, zu einer festen politischen Kraft im Nahen Osten geworden ist, wurde bis heute nicht beantwortet. Das brachte über Monate hinweg immer wieder die Regierung ins Wanken. Man redet lieber, statt zu handeln – zum Beispiel über den Goldstone-Bericht, jenen von einem südafrikanischen Richter angefertigten Untersuchungsbericht der Vereinten Nationen. Der sorgte im Sommer für Furore, weil Israels Regierung Monate lang immer wieder seine angebliche Einseitigkeit beklagte.
Eine ähnliche Entwicklung ist auch auf der Seite von Hamas zu beobachten: Sie sitzt zwar fest im Sattel, ist aber durch Grabenkämpfe nahezu handlungsunfähig. Da gibt es das Lager um Premierminister Ismail Hanija, das auf Pragmatismus setzt und ein Gleichgewicht der Kräfte sucht, um den De-facto-Staat, den man sich aufgebaut hat, am Laufen halten zu können. Und es gibt das Lager um den obersten Hamas-Funktionär Chaled Meschal, das am Liebsten den umfassenden bewaffneten Kampf gegen Israel wieder aufnehmen würde. Auch hier gilt: Beide Positionen sind unvereinbar, und sie behindern das Regierungsgeschäft.
Am Deutlichsten wird diese Handlungsunfähigkeit zur Zeit an den Verhandlungen über einen Gefangenenaustausch – so man denn überhaupt über Verhandlungen sprechen kann. Denn trotz endloser Treffen in Gaza und in Jerusalem sind sie nach wie vor ein ständiges Hin und Her von Maximalforderungen. Die Hamas will, unter dem Druck ihrer Hardliner, dass ihre Forderungsliste komplett erfüllt wird. Israels Regierung hingegen, ebenfalls unter dem Druck der Falken, versucht, ihre Zugeständnisse so gering wie möglich zu halten. So hatte man während einer Marathonsitzung des israelischen Sicherheitskabinetts jüngst dem Druck der populistischen Jisrael-Beitenu-Partei von Außenminister Avigdor Lieberman nachgegeben und Nachverhandlungen über 13 palästinensische Gefangene beschlossen, deren Freilassung ursprünglich nie in Zweifel stand; denn unter ihnen befinden sich neun Jugendliche unter 16 Jahren und vier Frauen.
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