Selbst McDonald's ist geflohen
Ein Jahr nach dem Kollaps sehen viele in Island auch neue Chancen
Die Wirtschaftskrise, die vor einem Jahr dem Reichtumsmärchen Islands ein Ende setzte, sei in der Provinz noch nicht so spürbar wie in der Hauptstadt Reykjavik, sagt Pfarrer Kristijan Ingolsson. Zumindest die Selbstmordrate sei nicht markant gestiegen, obwohl viele Haus, Riesenjeep und Hof verloren haben. Aber man müsse gar nicht auf die Wikingerzeit zurückgehen, um zu verstehen, dass sein Volk das Leiden und Entbehren auf der beeindruckend schönen, aber lebensunfreundlichen Insel gewöhnt sei. Der starke Geist und der Zusammenhalt leben weiter. »Die Menschen, ob gläubig oder nicht, nähern sich von der Oberfläche des jahrelangen Reichtums wieder tiefer greifenden Werten.«
Die Hauptstadt aber stürzte deutlich ab. Um die feine Einkaufsstraße Laugavegur herum geht es geschäftig, aber ruhiger zu als in früheren Jahren. In den bunten Fassaden klaffen leere Schaufensterlücken bankrotter Läden. Verkäuferin Hjördis arbeitet in einem der besseren Kleidergeschäfte. »Früher kamen gestresste Ehefrauen, die teure Anzüge für ihre Geschäftsmänner auf den Tresen warfen, und wenn sie unsicher waren, ob blau oder schwarz, kauften sie beide. Jetzt überlegen sie fünf Mal«, sagt sie.
Geschäftiger ist es im Arbeitsamt etwas außerhalb. Melkorka Olafsdottir, Musikerin des Hauptstadtorchesters, sitzt im vollen Wartezimmer. »Die haben die jüngsten Musiker zuerst rausgeschmissen«, erzählt sie. In Island gebe es kein anderes Orchester für sie, also sucht sie im Ausland, auch in Deutschland. Ihr Gesichtsausdruck verfinstert sich nicht einmal bei der Frage nach den Schuldigen des Zusammenbruchs, die im Februar in einem Untersuchungsreport angeprangert werden sollen. Eines sei klar: »Die neureichen Isländer waren wie besoffene Teenager, die sich letztlich übergeben mussten. Es ist ungerecht, dass ich nun deren Zeche mitbezahle.« Und es sei schade, dass viele gute Leute die Insel verlassen müssten.
Das bestätigt Frank Friedriksson vom Arbeitsamt: »Es gibt eine größere Auswanderungswelle, vor allem nach Norwegen.« Von den rund 20 000 zumeist aus Polen gekommenen Gastarbeitern haben viele Island wieder verlassen. Seit McDonald's im November die Insel ganz aufgab, wird der »Pizza King« in einer Ecke der Hafnarstræti geradezu überlaufen. Der spanische Eigentümer freut sich. Und auch Pizzabäcker Krzysztof aus Siedlce in Polen ist froh, seinen Job behalten zu können.
Auch jüngere Isländer geben sich überraschend gefasst, ob Studentin oder freier Künstler: Die Krise biete ihnen Chancen, Island neu und besser wiederaufzubauen. Olafur Ovvi Gudmundsson etwa zeigt stolz seine eigene, im Sommer gegründete Galerie nahe dem ehemaligen Nachtklub Circus. Das Lokal ist heruntergekommen, aber der 27-Jährige renoviert selbst. Weil so viel leer steht und jeder in Reykjavik jeden kennt, den Bürgermeister eingeschlossen, ging es schnell. »Ich zahle keine Miete. Eine so feine Adresse im Zentrum wäre vor einem Jahr unerreichbar für mich gewesen«, sagt er. »Reykjavik wird durch die Armut wieder einfallsreicher«, meint auch sein Freund, der Modedesigner Boas Kristjansson, der mit wenigen isländischen Kronen und viel Geschick seine Kollektion im Ausland vermarktet.
Der Schriftsteller Einar Gudmandsson veröffentlichte eine viel beachtete Abrechnung mit der Finanzelite: »Wir haben jetzt mehr Offenheit und Solidarität. Das ist gut. Aber ich fürchte, dass die alte Machtelite dabei ist, Island wieder zurückzuerobern.«
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