Standing Ovation fürs Manifest
Warum sich der Schauspieler Rolf Becker von der Vorstellung, Kunst und Politik zu vermischen, getrennt hat
Wer liest das heute noch?
»Ein Gespenst geht um in Europa – das Gespenst des Kommunismus« und »Proletarier aller Länder, vereinigt Euch!« – der erste und der letzte Satz des »Kommunistischen Manifestes«. Ein politischer Paukenschlag aus dem 19. Jahrhundert. Wer hört da noch hin?
Der Schauspieler Rolf Becker steht hinter einem Pult, das Manuskript liegt vor ihm, ein Glas Wasser ist da, im Saal wird es langsam ruhig. Fast beiläufig beginnt Rolf Becker zu lesen. Als würde er eine einfache Geschichte erzählen – erzählt er Geschichte. Zwei Stunden Schwerstarbeit liegen vor ihm und seinen Zuhörern. – Das war vor einem Jahr.
Mitten in der Daimlerwelt in Stuttgart-Untertürkheim, im Arbeiterbildungszentrum Süd, hören sich mindestens 250 Leute an, was von Marx und Engels geschrieben wurde über Haben und Nichthaben, Armut und Reichtum, über Menschen wie sie hier im Saal. »Diese Arbeiter (...) sind eine Ware wie jeder andere Handelsartikel und daher gleichmäßig allen Wechselfällen der Konkurrenz, allen Schwankungen des Marktes ausgesetzt.«
Opel, Daimler und VW geht es an den Kragen. Die Einbrüche sind massiv. Arbeiter fürchten um ihre Arbeit, Vorstände um ihren Profit. In der Krise boomt Kurzarbeit. Im Dezember 2009 trifft es 41 000 Daimler-Beschäftigte. Rettung, die nichts retten kann. Eine Studie prognostiziert für den deutschen Fahrzeugmarkt ein Absatzminus von bis zu 50 Prozent im Jahr 2010.
Der Markt ist gnadenlos. So steht es im Manifest, und es steht auch da, dass und wie man aus der Welt des Marktes eine menschliche Welt machen kann. Es hat was mit dem Eigentum an Produktionsmitteln zu tun, mit Banken, mit der Gier nach mehr Profit. Wie das zu ändern ist, beschreibt der Text kurz und bündig und ziemlich einleuchtend. Und bekräftigt die Absicht mit einem entschiedenen »Allerdings, das wollen wir.« Dafür gibt es immer Beifall.
Rolf Becker lässt bei den Lesungen alles weg, was nach Klassenkampfromantik klingen könnte. Er möchte aufklären, erklären, nicht verklären. Das ist anstrengend. Dann der letzte Satz – leise und zurückhaltend. Schluss. Stille. Man könnte bis 25 zählen. Dann Applaus, einer steht auf, noch einer, alle. Standing Ovation. »Das haut dich weg. Das macht Gänsehaut. Ich hätte mir das nie träumen lassen.« Er schüttelt den Kopf, lächelt. So ist es in Lübeck, in Paderborn, in Berlin.
Berlin: Ein Schnittpunkt auf Beckers Wegen von Hamburg nach Stuttgart nach Leipzig nach München nach Braunschweig nach Blieskastel nach Elmshorn nach Hannover. Ein Vortragsreisender in Sachen Manifest? Becker ergänzt: Auch Brecht, Gorki, Heinrich Heine und besonders die Briefe einer sozialdemokratischen Bremer Arbeiterfamilie aus dem Ersten Weltkrieg. Neu ist das Programm »Hier wird Geld verdient«. Eine literarisch-philosophische Vor-Lesung zur Geschichte des Geldes und seiner Umwandlung in maximalen Profit mit Hilfe und auf Kosten des zur Verfügung stehenden Humankapitals. Passt gut in die Zeit, passt sehr gut zum Manifest.
1998 – zum150. Erscheinungsjahr – bietet Rolf Becker dem Hamburger Schauspielhaus eine Lesung zum Jubiläum der Schrift an. Die Ablehnung kam prompt und war höflich. Die Lesung fand in einer Schule statt. Danach lud der AStA der UNI Darmstadt ein, mitten hinein in Diskussionen um Studiengebühren und gegen Sozialabbau. Gewerkschaften sind daran interessiert, Sozial- und Bildungsinitiativen, politische Gruppen und Organisationen. »Natürlich, die Wucht der Krise regt zum Denken an. Die Analyse wird gebraucht.«
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Rolf Becker, 1935 in Leipzig geboren, wächst in einer Großfamilie in Schleswig-Holstein auf. Die Gegensätze in politischer Haltung und Temperament könnten für ewige Feindschaften reichen – aber die Familie diskutiert darüber. In Beckers Erinnerungen hört der Großvater unter einer Pferdedecke heimlich BBC und Radio Moskau. Die musikalische Kennung der Sender wird Rolf Becker nie vergessen. Auch nicht, dass sein Nazi-Onkel nichts verrät. Erinnerungen fügen sich zu Gesellschaftsbildern und Weltsichten. Wie der Großvater 1919 die Bremer Räterepublik verteidigte, dass seine Mutter in der Künstlerkolonie Worpswede die von dem kommunistischen Maler Heinrich Vogler gegründete Arbeiterschule besuchte, dass sein Vater als Offizier der reaktionären Division Gerstenberg auf Befehl Noskes im Februar 1919 die Republik niederschlug – und dass es Zufall war, dass Vater und Großvater sich dabei nicht umgebracht haben. Geschichten für Enkel und Urenkel.
Rolf Becker erlebt, dass Unterschiede diskutierbar sind und auszuhalten auch. Dagegen steht eine andere Erfahrung dieser Generation: Der Tod der Väter. Im Dorf geht das Weinen um. Dann bringt der Postmann den Brief: Gefallen für Großdeutschland 1943 im Kursker Bogen. Die letzte Erinnerung des Sohnes an seinen Vater: Schlohweiße Haare und ein düsterer Satz: »Wir haben den Krieg verloren. Wir können von Glück sagen, wenn wir davonkommen.« Es muss Ungeheuerliches passiert sein.
Der Krieg ist aus, und Rolf Becker wird zehn Jahre. Seine Kindheit ist im Krieg geblieben. Verschlungen von Ängsten, Warten und Tränen. Er wird nach Bremen auf das Gymnasium geschickt, ist auf sich gestellt und lernt, verlässlich zu sein, um zurechtzukommen. Er trifft auf eine fremde Welt, fest gefügt und autoritär. Lehrer, die eben noch Heil geschrieen haben. Das Ungeheuerliche wird verdrängt. Als Vaterlandsverräter werden die Zeugen der Anklage in den Nürnberger Prozessen beschimpft, und alte Nazis kommen umstandslos wieder zu Amt und Würden. Generale schreiben in Memoiren, was sie besser machen würden. Das Alte mausert sich.
»Nach der Katastrophe machten die einfach weiter. Was konnten die uns Jungen sagen? Die hatten immer noch nichts begriffen.« 1950/51 war die Remilitarisierungsdebatte in vollem Gange. Innenminister Heinemann trat zurück, Pastor Niemöller und andere protestierten, im Osten schrieb Brecht »Das große Karthago«. Mahnung und eine Antwort für den 16-jährigen Becker in Bremen. Er sieht den Film »Der dritte Mann« mit Orson Welles und entdeckt Spiel und Ernst des Theaters. Nun weiß er, was er will: Abitur und dann Schauspielunterricht an der Falckenberg-Schule in München. Mit aller Energie und unbedingtem Wollen stürzt er sich in die westdeutsche Theaterwelt. Die ist dabei, sich in die Gesellschaft einzumischen, die Hohlheit ihrer Werte, den Sumpf verlogener Traditionen anzuprangern – das bürgerliche Theater und seine konservierende Ästhetik zu demontieren. Die Zeit zieht tiefe Spuren.
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Es beginnen die 60er Jahre mit Spiegelaffäre, Flower-Power und Oben-ohne, mit dem Bau der Mauer und ihrer alltagspolitischen Akzeptanz durch die Westmächte. In Frankfurt am Main sorgt der Staatsanwalt und Holocaustüberlebende Fritz Bauer für das Zustandekommen der Auschwitzprozesse und zwingt die westdeutsche Gesellschaft in die Konfrontation mit ihrer NS-Vergangenheit. Im Namen der Demokratie machen die USA Krieg in und werfen Napalmbomben auf Vietnam.
Becker hat sein Debüt an den Münchner Kammerspielen. Er ist 22 Jahre alt und will die Welt verändern. Raus aus dem bürgerlichen Guckkasten, Kunst für alle und vor allem eine Gesellschaft, die das ermöglicht. Mit dem Dramaturgen Claus Bremer übersetzt und inszeniert er in Ulm Texte wie »Antigone« und »Ödipus« von Sophokles neu. Er dauert, bis er merkt, dass der ästhetische und politische Wechsel längst stattfindet, Zeitgeist wird, bald auch gutes Geschäft – und irgendwann zerschlissen ist. Er wechselt zum Bremer Theater, das durch seinen Intendanten Kurt Hübner zu einer der einflussreichsten Bühnen wird. Der berühmte Bremer Stil – mit Regisseuren wie Peter Zadek, Peter Palitzsch, Peter Stein.
Sein Aus in Bremen mit Eklat und fristloser Kündigung inszeniert Becker sich selbst mit der »Frauenvolksversammlung« von Aristophanes. Es ist ein richtiger Theaterskandal und ein politischer dazu. Chaos und Tumult. Die Zuschauer werden als Mitspielende auf die Bühne verbracht, der Eiserne Vorhang geht runter. Geben Sie das Theater auf, ist der Schlusssatz. Geiselnahme als Kunst. Rolf Becker wird gefeuert.
Seitdem lebt er in Hamburg als freier Schauspieler. »Ich bin genauso ein Lohnarbeiter wie der Fabrikkumpel«, sagt er und weiß natürlich, dass sein Job interessanter ist, auch besser bezahlt. Becker ist ein Gesicht und bekannt aus Theater- und Literaturverfilmungen: Herzog Alba in »Don Carlos«, Piccolomini in »Wallenstein«, Staatsanwalt in »Die verlorene Ehre der Katharina Blum«. Man kennt ihn aus dem Zadek-Film »Ich bin ein Elefant, Madame« sowie aus fast allen TV-Krimireihen ebenso wie als Rentner Otto Stein aus der ARD-Serie »In aller Freundschaft«, liebenswert und mit eigenem Sinn, immer ein bisschen neben der Spur.
Wir gehen durch die Reinhardt-straße in Berlin – Rolf Becker kennt die Wege aus der Zeit, als »ich die DDR besuchte, um ihre hervorragenden Theater kennenzulernen und Kollegen zu treffen«. Vor uns das Deutsche Theater: »Ganz groß. Langhoff, Heinz, Besson. Kurt Böwe, Klaus Piontek, Inge Keller. Der »Drache« mit Esche und Karusseit. Wunderbar«. Hinter uns das Berliner Ensemble: »Da habe ich Theater gelernt. Das war der Anfang des Begreifens – diese Synthese von Kunst und Gesellschaft!«
Hier hat Becker im Dezember 2008 auch die Nachricht von der Freilassung Christian Klars erhalten. Wieder öffnet sich ein Kapitel Zeitgeschichte: 1969 – Willy Brandt und die Neue Ostpolitik. 1968 – Willy Brandt und die Notstandsgesetze. Studentenbewegung, APO, Ulrike Meinhoff, RAF. 68 und Aufbruch – nur wie und wohin? Die Frage polarisiert bis heute. Bleibt offen und verträgt keine konfektionierte Antworten. »Keiner denkt über das Bestehende hinaus. Wer es versucht, kommt auf die Strafbank.«
»Ja, das war eine gute Nachricht«. Rolf Becker telefoniert mit dem Anwalt von Klar, mit Klars Mutter und mit der Journalistin Bettina Gaus. Ihr Vater Günter Gaus regte im Frühjahr 2003 Christian Klar zu einem Gnadengesuch an. Becker unterstützte den Antrag. Seit 2001 besuchte der Schauspieler im Auftrag einer gewerkschaftlichen Initiative Christian Klar im Gefängnis und bemühte sich beim Intendanten des Berliner Ensemble um einen Praktikumsplatz für den Inhaftierten. Es hat dann doch nicht geklappt.
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Mit dem Rausschmiss 1969 beim Bremer Theater trennt sich Becker nun konsequent von der Vorstellung, Kunst und Politik alchimistisch zu vermischen. »Ich orientierte mich an der Wirklichkeit.« Damit hat er genug zu tun. Im September 1969 bei den wilden Streiks der Klöckner-Stahlwerker um 4.30 Uhr vor den Toren stehen – das war konkret. Oder mit Plakaten bei den Daimlerkollegen in Stuttgart – erst zum Streik, danach zum Drehen. Oder mit einer Sendeanlage für Radio Venceremos in Nicaragua. Oder 1999 mit gewerkschaftlichem Basis-Protest gegen den Krieg und die Lügen der NATO in Ex-Jugoslawien. Oder als Mitbegründer des Berliner Heinrich-Heine-Preises zur Unterstützung für Peter Handkes Engagement im zerbombten Serbien.
»Und die Manifest-Lesung ist auch konkret. Theorie trifft auf Wirklichkeit und es funktioniert.« Führt vielleicht zu Einsichten, noch besser wäre Veränderung. Darum geht es Becker von jeher: Gegen die Verwahrlosung der Gesellschaft gewissermaßen politischen Boden zu gewinnen und solidarisches Verhalten zu verwurzeln – Schritt für Schritt nur, darauf hat er sich eingestellt. Das dauert, wie zum Beispiel 1973 bei der Umbenennung der Düsseldorfer Uni in Heinrich-Heine-Universität. Mit der Textfolge »Dichter unbekannt« greifen Becker und Claus Bremer in den skandalösen, sechs Jahre dauernden politischen Vorgang ein, bis eine westdeutsche Universität nach dem streitbaren Dichter benannt werden kann. Dem Ossietzky ging es in Oldenburg übrigens ähnlich. Aber Heine ist doch der Favorit der Deutschen: Bei einer öffentlichen Lesung zum Jahrestag der Bücherverbrennung bekam Rolf Becker im Mai 2008 den Knüppel ins Kreuz. Ein feiner Mann, Hamburger Ex-Senator, konnte es einfach nicht mehr hören und verlor die Contenance. Die zugesprochenen 5000 Euro Schmerzensgeld spendete der Schauspieler dem Auschwitz-Komitee. Weitere 5000 Euro gehen an soziale Einrichtungen. Vielleicht für arme Kinder. Für arme Alte. Für arme Kranke. Für arme Ausländer. Für arme Frauen. Für arme Obdachlose. Für arme Arbeitslose. Für arme Hunde.
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