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Die große Katze und die kleine Maus
Vietnam geht seit mehr als zwei Jahrzehnten mit »doi moi« den Weg in die Marktwirtschaft. Die Schattenseiten des eindrucksvollen Aufschwungs sind indes nicht zu übersehen
Das Mausoleum für den vietnamesischen Volkshelden und Staatsgründer Ho Chi Minh am Ba-Dinh-Platz in Hanoi ist täglich das Ziel tausender Besucher. Geduldig stellen sich Schulklassen, Arbeitskollektive und festlich gekleidete Großfamilien an den Sicherheitsschleusen an, um nach Passieren eines ausgeklügelten Leitsystems schließlich das graue Bauwerk zu erreichen, das den gläsernen Sarkophag mit den sterblichen Überresten von »Onkel Ho« beherbergt, wie er von Vietnamesen respektvoll genannt wird. Das Mausoleum war gegen den testamentarischen Willen Ho Chi Minhs (er wollte, dass seine Asche verstreut wird) nach dessen Tod 1969 errichtet worden. Auf Spruchbändern zu beiden Seiten des Gebäudes steht in riesigen Lettern »Ho Chi Minh bleibt ewig in unseren Gedanken« und »Es lebe die Sozialistische Republik Vietnam«.
Ein paar hundert Meter weiter, in der quirligen Altstadt von Hanoi oder im Botschafts- und Ministerienviertel mit seinen prachtvollen Villen aus französischer Kolonialzeit bestimmen Restaurants aller Kategorien, Läden, die von Waren überquellen, fliegende Händler mit Obst und Gemüse das Bild. Auf den meist schmalen Straßen liefern sich zehntausende Mopeds, Kleintransporter, Pkw und Omnibusse einen oft rücksichtslosen Kampf um schnelles Weiterkommen. Fußgänger müssen ihren ganzen Mut zusammennehmen, wenn sie eine Straße überqueren wollen, zumal auch Ampeln meist keine Beachtung finden. Die Zeiten der Armut und der Mangelwirtschaft nach dem Krieg, so scheint es, sind vorbei.
Das Zauberwort, von dem Hanoi und das ganze Land geprägt werden, lautet »doi moi« (Erneuerung) und meint eine an Marktgesetzen statt staatlicher Planwirtschaft orientierte Politik, die ausdrücklich auch private Unternehmen anerkennt. Dieser Ende der 80er Jahre eingeschlagene Kurs bescherte dem Land einen beispiellosen, von milliardenschweren ausländischen Investitionen begleiteten wirtschaftlichen Aufschwung, der durch die weltweite Krise der jüngsten Zeit allerdings gedämpft wurde.
»Wir sprechen hier nicht von Kapitalismus oder von Kapitalisten«, erklärt Nguyen Tring Linh mit einem Augenzwinkern, »wir sagen lieber ›reiche Leute‹ zu den Gewinnern der Reform.« Der gelernte Maschinenbauer, der seine Ausbildung in Karl-Marx-Stadt absolviert hat, verdient sein Geld als Dolmetscher und Reiseleiter. Das Leben in Vietnam sei spürbar teurer geworden. »Für alles muss man heute bezahlen, vom Kindergarten bis zur Universität«, sagt Linh und erinnert sich mit Wehmut an seine Zeit in der DDR, als für ihn vieles unentgeltlich war.
Der ungestüme Aufschwung in den letzten Jahren zeigt sich überall in Vietnam. Die Hauptstadt Hanoi platzt aus allen Nähten. Sie zählt schon fast vier Millionen Einwohner – und 1,5 Millionen Mopeds. Viele der Hanoier leben jenseits des Roten Flusses, dort, wo sich in den neuen Industrieparks Firmen aus Südkorea, Hongkong, den Philippinen oder Japan angesiedelt haben. Die früher einzige Brücke über den Fluss, im Krieg von den US-Amerikanern mehrfach bombardiert, hat längst ausgedient und ist nur noch für Fußgänger und Mopeds freigegeben. Zwei neue, moderne Übergänge führen über den Song Hong, zwei weitere sind geplant.
In Hanoi wird auch am Aufbau eines effektiven Nahverkehrssystems gearbeitet. Ob S- oder U-Bahn ist noch nicht klar und hängt wohl von den Kosten ab. Eine funkelnagelneue Autobahn verbindet Hanoi mit der chinesischen Grenze und soll nach Süden bis Ho-Chi-Minh-Stadt verlängert werden.
Dort, im ehemaligen Saigon, ist die Bevölkerung auf über acht Millionen angewachsen, obwohl nach dem Sieg des Nordens im Kampf gegen die USA und deren vietnamesische Vasallen 1975 Hunderttausende ins Ausland geflohen waren. Jährlich kommen, so sagt die Statistik, rund 100 000 Einwohner hinzu, viele von ihnen aus dem Norden. »Das hängt nicht nur mit dem besseren Wetter hier zusammen, wo es nur zwei Jahreszeiten gibt, die Regenzeit und die Sommerzeit, und wo die Winter wärmer und die Sommer nicht so heiß wie in Hanoi sind«, weiß Pham Thanh Tung, der sich im Stadtpark ein wenig ausruht und jungen Pionieren mit roten Halstüchern bei einem Gruppennachmittag zusieht. Tung hat in Ilmenau studiert und wurde, wie viele seiner Landsleute, nach 1975 von Hanoi nach Saigon (wie die meisten Vietnamesen immer noch sagen) versetzt, um dort beim sozialistischen Aufbau zu helfen, wie es damals hieß.
Der wirtschaftliche Aufschwung hat indes auch Schattenseiten. So kann die allgegenwärtige Propaganda auf Plakaten, Spruchbändern oder überdimensionalen Bildern mit optimistischen Werktätigen, entschlossenen Soldaten oder glücklichen Kindern nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich Korruption, Vetternwirtschaft, Prostitution und Glücksspiel trotz offizieller Verbote ausbreiten. Reiche Vietnamesen mit Einfluss und guten Verbindungen halten sich eine Konkubine als Statussymbol, die man hier mit dem Begriff »Nudelsuppe« umschreibt. Verkehrspolizisten, die von jedem Sünder 20 Dollar (die vietnamesische Zweitwährung) kassieren und sich so am Tag bis zu 1000 Dollar in die Tasche stecken können, nennt der Volksmund »Polizeipagoden« (die »verdienen« so viel, wie eine Pagode kostet). Fast 40 Prozent des öffentlichen Lebens, so besagt eine vorsichtige Schätzung, sind vom Geschwür der Korruption erfasst. Das gehe schon im Kindergarten oder in der Grundschule los, wo Eltern den Erzieherinnen oder Lehrern ein Trinkgeld zustecken, damit sie auf ihre Sprösslinge besser aufpassen und ihnen besseres Essen geben, und setzt sich in Behörden und anderen öffentlichen Einrichtungen fort, wo kaum etwas ohne Schmiergeld geht.
Einen ganz anderen Eindruck vermittelt das Vietnam von heute, wenn es um den Krieg geht, der trotz gewaltiger Opfer und Entbehrungen zur Befreiung des Südens und zur Wiedervereinigung des Landes geführt hat, wie Gesprächspartner betonen.
3000 Soldatenfriedhöfe, verstreut über das ganze Land, erinnern an die Millionen Vietnamesen, die in diesem Kampf ihr Leben gelassen haben. Dazu kommen offizielle Gedenkstätten wie am Tunnelsystem von Cu Chi, wo sich während des Krieges in einem 250 Kilometer langen dreistöckigen unterirdischen Labyrinth bis zu 10 000 Soldaten auf die Befreiungsschlachten um das knapp 70 Kilometer entfernte Saigon vorbereiteten. Die Amerikaner hatten über Cu Chi so viele Bomben abgeworfen und so viel Gift versprüht, dass die Region erst Ende der 80er Jahre vorsichtig wieder besiedelt werden konnte. Insgesamt gibt es in Vietnam rund fünf Millionen Agent-Orange-Opfer mit Missbildungen und Schwerstbehinderungen, zum Teil in der dritten Generation. Sie haben von Seiten der USA noch immer keine Entschädigung erhalten, obwohl Senator John McCain, damals noch Präsidentschaftskandidat der Republikaner, bei seinem Vietnam-Besuch 2008 eine baldige Lösung in Aussicht gestellt hatte.
Den Namen John McCain findet man übrigens auch auf einem kleinen Monument an der Straße zwischen dem Westsee und dem See der Weißen Seide in Hanoi. Es ist den vietnamesischen Flaksoldaten und den von ihnen abgeschossenen USA-Piloten gewidmet.
Sehr zurückhaltend reagieren vietnamesische Gesprächspartner, wenn die Rede auf das Verhältnis zum großen nördlichen Nachbarn China kommt. Eine Ausstellung in Hanoi unter dem Titel »Vietnam – China, freundschaftliche und friedliche Grenze« versuchte im Frühjahr 2009 den Besuchern den Eindruck zu vermitteln, dass nach der völkerrechtlich anerkannten Grenzfestlegung, besiegelt im Dezember 2008, alles in Ordnung sei. Dennoch bleiben viele Vietnamesen vorsichtig. Sie trauen dem Frieden nicht: Zu oft in der Geschichte war von Norden Gefahr ausgegangen. Im Volksmund wird gern kolportiert, dass die Chinesen alle Katzen und Schlangen in Vietnam aufkaufen wollen, um dort eine verheerende Mäuseplage auszulösen. China, so heißt es auch, ist die große Katze und Vietnam die kleine Maus.
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