Die Macht der Buchstaben
In Mainz und Kaiserslautern versuchen Forscher, Hilfsangebote für Analphabeten zu entwickeln
Mainz/Kaiserslautern. Geldziehen am EC-Automaten, eine E-Mail schreiben oder schlicht die Speisekarte lesen: Für Analphabeten sind selbst alltägliche Dinge oft schier unlösbar. »Viele haben die erforderliche Grundbildung nicht«, sagt Markus Höffer-Mehlmer, Privatdozent für Erziehungswissenschaften an der Johannes Gutenberg-Universität in Mainz. Der 51-Jährige leitet den 14-köpfigen Forschungsverbund »Alphabetisierung und Bildung«, kurz AlBi, der Betroffenen helfen will. Im Team sind Wissenschaftler der Universitäten Mainz und Kaiserslautern sowie Mitarbeiter von zwölf weiteren Institutionen. Das Projekt wird vom Bundesministerium für Bildung und Forschung für drei Jahre mit 2,2 Millionen Euro unterstützt.
»Die Zahl der Analphabeten in Deutschland ist vom Bundesverband Alphabetisierung und Grundbildung grob auf vier Millionen geschätzt worden. Wie hoch sie wirklich ist, weiß niemand«, erklärt Höffer-Mehlmer. Experten sprechen von »funktionalen Analphabeten«, also solchen, denen Grundbildung fehlt. Rechenkenntnisse gehören genauso dazu wie Schreiben, Lesen, aber auch Grundwissen über Nahrungsmittel oder Technik. AlBi hat sich zwei Arbeitsschwerpunkte gesetzt. »Wir entwickeln Angebote für Analphabeten und erarbeiten Aus- sowie Weiterbildungsmaßnahmen für Lehrkräfte und andere Schlüsselpersonen, die mit Betroffenen in direktem Kontakt stehen«, erklärt der Pädagoge.
Technik der Verschleierung
Ersteres begleitet die Universität Kaiserslautern wissenschaftlich, für die Aus- und Weiterbildung ist die Universität Mainz zuständig. Es gab bereits eine große AlBi-Tagung, zudem wurden Kurse für Mitarbeiter der Arbeitsagenturen organisiert und Aktionen zur Sensibilisierung der Öffentlichkeit gestartet.
»Analphabeten schämen sich meist und versuchen, kritische Situationen zu vermeiden. Da gibt es ausgeklügelte Verschleierungstechniken«, erzählt der Dozent. So gibt man vor, seine Lesebrille vergessen zu haben, um kein Formular ausfüllen zu müssen. »Vertrauenspersonen machen es dann zu Hause.« Im Restaurant bestellen Analphabeten oft das Gleiche wie ihr Tischnachbar. Manche würden sich auch ihre Hand bandagieren, um nicht schreiben zu müssen. Der zweifache Familienvater kennt einen Fall, in dem ein Analphabet mit Hilfe solcher Techniken sogar seine Gesellenprüfung bestanden hat. »Das ist aber eine Ausnahme. In der Regel haben es die Betroffenen im Alltagsleben und vor allem im Beruf schwer«, betont der Fachmann.
Die Gründe für Analphabetismus seien vielfältig und ließen sich meist nicht auf eine Ursache allein zurückführen. Schwierige familiäre Verhältnisse gepaart mit zu wenig Förderung in der Schule können Auslöser sein. Aber auch angeborene Beeinträchtigungen wie schlechtes Hörvermögen oder eine Lese-Rechtschreib-Schwäche können zum Analphabetismus führen. »Es gibt kein Zahlenmaterial über das Alter der Betroffenen. In unserem Forschungsverbund haben wir uns allerdings auf Erwachsene spezialisiert«, erklärt der gebürtige Kölner.
Zu den zwölf beteiligten Institutionen gehören Volkshochschulen sowie die katholische und evangelische Erwachsenenbildung. »So erreichen wir unterschiedliche Zielgruppen mit unseren Angeboten«, sagt Höffer-Mehlmer. Erwachsenen das Lesen und Schreiben beizubringen, erfordert eine andere Herangehensweise als bei Kindern. Die Betroffenen haben in der Regel schon Grunderfahrungen mit Schriftzeichen gemacht.
Wichtig: Bezug zum Alltag
Beim Schreibenlernen lege man großen Wert auf den Bezug zum Alltag, betont der Wissenschaftler. Ob eine Karte aus dem Urlaub, ein Bewerbungsschreiben oder ein Liebesbrief – es gebe viele Möglichkeiten. »Die Lehrkräfte müssen gezielt auf die Personen eingehen, da die Ursachen immer andere sind.« So muss mit dem einen erst das Gehör trainiert werden, Migranten müssen die Sprache von Beginn an neu lernen und wieder anderen fehlt es an der nötigen Konzentration. Gerade auf dem Land seien geeignete Angebote selten. In größeren Städten gebe es aber Ansprechpartner. »Wer es wirklich möchte, soll in Zukunft Hilfe finden«, betont Höffer-Mehlmer.
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