Zu viele, nutzlose, gefährliche Pillen
Landesseniorenbeirat Berlin übt Kritik wegen Fehlern in der Arzneimittelversorgung im Alter
Mit Problemen der Arzneimittelversorgung im Alter beschäftigte sich am vergangenen Freitag der Landesseniorenbeirat Berlin. Das für jeweils fünf Jahre berufene Gremium von Ehrenamtlichen, das die Interessen der Älteren gegenüber dem Senat vertritt, lud zur kritischen Bestandsaufnahme Experten ein.
Gerd Glaeske von der Universität Bremen verwies darauf, dass die Hälfte der Über-65-Jährigen an drei oder mehr relevanten chronischen Krankheiten leide. Sie verbrauchten dabei mengenmäßig 80 Prozent der in Deutschland verschriebenen Medikamente, dank des hohen Generika-Einsatzes allerdings zu sinkenden Kosten. Noch immer würden Arzneien aber an Männern um die 40 mit nur einer Krankheit klinisch erprobt. Auch bei den knapp 1000 Behandlungsleitlinien gebe es nur fünf mit Empfehlungen zur Multimorbidität. Glaeske, der auch Mitglied des Sachverständigenrates zur Begutachtung der Entwicklung des Gesundheitswesens ist, plädierte dafür, interdisziplinäre Aspekte und die Pflege besser in die Leitlininen zu integrieren.
Elf Prozent der Krankenhauseinweisungen seien heute auf unerwünschte Medikamentenwirkungen oder Wechselwirkungen verschiedener Mittel zurückzuführen – auch hier sind vor allem ältere Patienten betroffen. Senioren hätten im Schnitt vier Fachärzte, die sie regelmäßig konsultierten. Jeder verschreibe Tropfen oder Pillen, kaum einer kümmere sich um die Verordnungen der Kollegen. Auch die Hausärzte seien nicht in der Lage, Prioritäten zu setzen, obwohl sie eine koordinierende Rolle übernehmen könnten. Aber sie sind nur selten für ihre größte Patientengruppe – also geriatrisch – fortgebildet. Entsprechend kommen die Senioren schon mit Listen von zehn Medikamenten und mehr in die Klinik, wie Rainer Neubart berichtete, Geriatrie-Chefarzt im Sana Klinikum Berlin-Lichtenberg. Daneben hätten die mehrfach Erkrankten noch diverse Ernährungsratschläge zu befolgen. Seitens der Pharmazeuten gilt als Faustregel, dass pro Person nicht mehr als vier bis fünf Medikamente gleichzeitig eingenommen werden sollten, um Neben- und Wechselwirkungen noch zu überschauen und auszubalancieren.
Noch problematischer wird die Mehrfachmedikation, wenn Arzt und Patienten keine Zeit mehr bleibt, um über Einnahme, Zweck und Nebenwirkungen zu sprechen. Rainer Neubart verweist auf eine Weiterbildung, die Allgemeinmediziner an der Geriatrischen Akademie Brandenburg absolvieren können. Außerdem sei es an der Zeit, für alle Medizinstudenten Altersheilkunde zum Pflichtfach zu machen. Der Mangel an Fachleuten zeige sich auch darin, dass von den 42 Berliner Heimärzten nur zwei geriatrisch qualifiziert seien.
Der Landesseniorenbeirat plant nun, gegenüber der Senatsverwaltung die Einbeziehung von Senioren in klinische Prüfungen zu fordern, die in Berlin durchgeführt werden. Über die staatliche Ethikkommission wäre ein Einfluss auf die Studiengestaltung möglich, so Ingeborg Simon, Leiterin der AG Pflege/Gesundheit des Beirates. Auch für die Einrichtung geriatrischer Lehrstühle an Berliner Hochschulen will sich das Gremium weiter engagieren.
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