Wenn Glocken altern
Die Läutwerk-Expertin Birgit Müller sorgt für die Sicherheit von 3500 Kirchtürmen an Rhein und Saar
Speyer. Wenn große Masse sich in Bewegung setzt, geht Birgit Müller sicherheitshalber in Deckung. Der Wind treibt Spritzregen in den Glockenturm der Gedächtniskirche in Speyer. Die kleine Frau im grünen Overall steht unter dem »Luther«, wie die größte der insgesamt acht Glocken in dem Wahrzeichen des Protestantismus heißt. Kommt der knapp 7,5 Tonnen schwere Klangriese in Schwung, geht man besser beiseite, sagt die 44-Jährige. Birgit Müller hat einen besonderen Beruf: Sie ist Glockensachverständige.
Wenn Glocken kaputt gehen oder sich eine Kirchengemeinde eine neue anschaffen will, ist Birgit Müllers Sachverstand gefragt. Seit 2004 arbeitet die frühere Weinkönigin aus Deidesheim freiberuflich als Glockensachverständige für das Bistum Speyer, seit dem Jahr 2006 für das Bistum Trier und seit vergangenem Frühjahr auch für die Evangelische Kirche der Pfalz.
»Gehen die Ausgaben in die Tausende, werde ich einbestellt«, sagt die quirlige Dame, die mit Honorarverträgen für ihre kirchlichen Auftraggeber arbeitet. In luftiger Höhe überprüft sie nicht allein die Technik in den Glockentürmen. Auch in Fragen der Läuteordnung können sich die Kirchengemeinden beraten lassen. Rund 3500 Kirchtürme gibt es in ihrem Arbeitsbereich, »das schafft man«, versichert sie.
Verschobene Reparaturen
Birgit Müller ist eine von nur drei weiblichen Glockensachverständigen in Deutschland. In der Evangelischen Kirche in Deutschland hat sie in Oldenburg eine Kollegin. In der Männerdomäne kommt sie gut zurecht. »Als Frau muss man eben ein bisschen mehr wissen«, sagt sie resolut. Ausbilden ließ sich Müller beim ökumenischen Beratungsausschuss für das Deutsche Glockenwesen. Es ist ihr Vorteil, dass sie einen guten Berater hat: Ihr Mann Volker Müller war seit 1984 als Glockensachverständiger tätig.
Drei bis vier Termine pro Tag stemmt Birgit Müller und ist dafür mit dem Auto in großen Teilen von Rheinland-Pfalz und im Saarland unterwegs. Dabei hakt sie ein stattliches Programm ab: Nicht nur der Turmaufstieg, Klöppel und die Läutemaschine werden genau in Augenschein genommen. Auch macht sie Bestandsaufnahmen des Glockenwerks, notiert historische Inschriften. Manche Kirchengemeinden wissen nicht, welche tonnenschweren Gefahren in maroden Türmen hängen, warnt Müller. Nur zu oft verschöben sie beim Blick in die leeren Kassen notwendige Wartungen oder Reparaturen. »Ich spare mehr, als ich koste«, lautet Müllers Geschäftsargument. Für ihre Diagnosen übernimmt die Evangelische Kirche der Pfalz die Kosten.
Sind Leib und Leben von Menschen in Gefahr, ist mit der Glockensachverständigen nicht zu spaßen. Liegen etwa die elektrischen Leitungen der Läutemaschinen frei, »dann schraube ich gleich die Sicherung raus», sagt sie. Auch kommt es vor, dass Turmaufgänge wegen verfaulter Holztreppen gesperrt werden müssen. Bei gefährlichen baulichen Mängeln zieht Müller die kirchlichen Bauämter hinzu.
Denkmäler der Kultur
In einer Gesellschaft, in der die kirchliche Bindungskraft schwindet, muss Müller immer wieder erklären, warum Kirchenglocken es wert sind, erhalten zu werden. »Sie sind Kulturdenkmäler, die uns sonst verloren gehen«, macht sie deutlich. Welcher Musik lauscht die Glockensachverständige, wenn sie abends den Hörschutz beiseitelegt? »Gerne Klassik«, antwortet Birgit Müller. »Ich bin aber froh, auch einmal keine Glocken zu hören.«
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