Märchen, Wahn, Zukunftsvision

»Die andere Seite«, ein fantastischer Roman von Alfred Kubin

  • Sabine Neubert
  • Lesedauer: 4 Min.
WIEDERgelesen – Märchen, Wahn, Zukunftsvision

Eines Tages erscheint bei einem Maler und Zeichner, der sich mühsam mit Illustrationen durchs Leben schlägt, ein Fremder und erklärt, er sei der Agent eines früheren Schulfreundes des Malers, eines Klaus Patera (der Name erinnert an Pater = Vater). Der lade ihn zu einem Aufenthalt in seinem »Traumreich« ein, das er gerade im Inneren Asiens errichte. Der Maler nimmt das Angebot zunächst nicht ernst, er zögert, während der Agent von den Besonderheiten und Merkwürdigkeiten des Reiches und dem unermesslichen Reichtum Pateras berichtet, zumal der unheimliche Gast »etwas Katzenhaftes in den Augen« hat. Aber das Angebot ist verlockend, schon längst hat der Maler an eine größere Reise gedacht, und als der Fremde ihm einen Scheck über hunderttausend Mark überreicht, ist die Reise zusammen mit seiner Frau beschlossene Sache.

Nein, wir sind hier nicht im Moskau der dreißiger Jahre, und der Fremde, der mit Geldscheinen nur so rumwerfen kann, heißt nicht Voland, sondern eben Patera bzw. Franz Gautsch, sein Agent. Später dann, als in Perle, der Hauptstadt des Traumreiches, irrwitzige Orgien gefeiert werden, sind wir auch nicht auf dem »großen Ball beim Satan« in Bulgakows »Meister und Margarita«, obwohl wir es beinahe annehmen könnten. Einmal geht der fiktive Erzähler, unser Illustrator, nun schon eine Weile in Perle, durchs »französische Viertel«, das er bislang gemieden hat. Da begegnet er Dirnen und Betrunkenen, und »die Häuser ragen schief und winklig in die Straßen« wie, so erinnern wir uns, auf den surrealen Illustrationen eines Lyonel Feininger aus der Zeitschrift »Ulk« oder ganz einfach wie im alten Prag eines Gustav Meyrink.

Kürzen wir den Inhalt ab, denn wir lesen den Roman ja schon zum zweiten Mal: drei Schreckensjahre verbringt der Maler im »Traumreich«, wo niemals Sonne, Mond und Sterne zu sehen sind. Seine Frau stirbt sehr bald. Im Laufe der Jahre wird das Reich, das von Anbeginn rückwärts gewandt und schon dem Untergang geweiht ist, restlos zerstört. Zunächst kommen Zeiten unsäglicher Trägheit, in denen die Bewohner in einen (Dornröschen-) Schlaf fallen, es folgen Zeiten der Schlaflosigkeit, die Nerven sind überreizt. Dann fallen die Tiere über die Stadt her und schließlich die Menschen über die Menschen. Alles zerbröckelt, versinkt in Schlamm und Blut.

»Melancholisches Rabengekrächze fesselte meine Aufmerksamkeit; die schwarzen Vögel saßen in langen Reihen dicht gedrängt auf der Ziegelei. Manchmal erhoben sich ganze Züge und führten in der Luft die exaktesten Schwenkungen aus.« Auch hier vergessen wir beinahe, dass wir nicht in einem Film mit dem Titel »Die Vögel« sind – wie ein paar Seiten weiter, als alle durch die Straßen hetzen und in einen »Massenselbstmord« rennen, auch nicht in Metropolis oder gar in furchtbarer Wirklichkeit, die Coventry, Dresden, Warschau, Katyn oder Berlin im Jahre 1945 heißt.

Irgendwann taucht im Roman ein reicher Amerikaner auf. Dieser Herkules Bell ist ein Widersacher Pateras, Retter und Satan in einem. Er setzt das apokalyptische Zerstörungswerk in Gang und vollendet es. Die großen biblisch-apokalyptischen Endzeitbilder bieten weitere Vergleiche an.

Kommen wir wieder zurück und runter auf den fiktiven Boden dieser Phantasmagorie, die auch Märchen und Wahn ist. Der Erzähler landet in einer Nervenheilanstalt. Alfred Kubik, den wir eher als Zeichner kennen, hat diesen, seinen einzigen Roman, im Jahre 1909 veröffentlicht. Es war die Zeit von Freuds »Traumanalyse«. Damals wurde das Buch als »großartige Abrechnung mit dem 19. Jahrhundert« gefeiert (so lese ich auf dem Umschlagtext meiner Reclam-Ausgabe von 1981). Stefan Zweig nannte Alfred Kubin einen »Mondmenschen in unserer bourgeoisen Literatur«. Man verglich ihn vor allem mit Edgar Allan Poe, und tatsächlich ist in dem Roman nicht nur Grausames, sondern auch Gruselig-Gespenstisches. Aber es gibt noch wesentlich mehr als die hier angeführten Vergleiche, das beginnt bei Dostojewskis »Idiot« und endet beim »Tanz der Vampire«. Kubins Visionen sind von einem Schreckens-Jahrhundert überboten worden.

Vor Jahren habe ich »Die andere Seite« vor allem als Groteske gelesen. Eine Ausstellung von Zeichnungen hat mich später nicht mehr losgelassen. Ich wollte das Buch noch einmal lesen, immer standen mir die Bilder vor Augen. Lange suchte ich vergebens meine kleine Reclam-Ausgabe, die sich (in Kubinscher Manier?) in meinem Bücherschrank versteckt hatte. Jetzt fand ich sie. Das Wiederlesen war kein Spaß, aber vielleicht notwendig, für mich jedenfalls und auch für die, die sich nicht nur gruseln, sondern Geschichte anhand von Literatur begreifen wollen.

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