Ein Gauleiter mit »glühendem Ehrgeiz«

Vor 70 Jahren: Die erste Massendeportation deutscher Juden aus dem »Altreich«

  • Wolfgang Wilhelmus
  • Lesedauer: 4 Min.
Vor 70 Jahren wurden 1120 Juden aus dem Regierungsbezirk Stettin zusammengetrieben und in das Gebiet Lublin deportiert, von denen nur 19 überlebten. Zwar waren bereits im Oktober 1938, im Zuge der vom SS-Reichsführer Heinrich Himmler befohlenen sofortigen Abschiebung der polnischen Juden aus Deutschland, mindestens 70 Familien aus dem Regierungsbezirk Stettin zur polnischen Grenze abgeschoben worden, doch mit dieser Deportation Anfang 1940 wurde eine neue Stufe des antisemitischen Terrors erreicht.

Unerwartet schlugen die braunen Greifer am 12. und 13. Februar 1940 zu. Die anhand vorbereiteter Listen verhafteten Juden wurden zum Güterbahnhof in Stettin getrieben. Vor ihnen lag eine viertägige Bahnfahrt in eigentlich schon ausrangierten, ungeheizten Waggons nach Lublin. Dort wurden sie auf die Orte Belzyce, Piaski und Glusk aufgeteilt. Bereits während dieser ersten Tage starben 72 von ihnen durch Gewalt, an Kälte und Verzweiflung. Ein erschütternder Bericht über diese Deportation liegt von der ehemaligen jüdischen Stettiner Stadträtin Elsa Meyring vor, die im Besitz eines schwedischen Visums war und sich im Juni 1940 aus dem Verbannungsgebiet nach Stockholm hatte retten können.

Noch hatte die NS-Führung die »Endlösung« nicht beschlossen. Vorgesehen war, polnische und deutsche Juden in Sammellagern zu internieren, um sie später nach Übersee abzuschieben. Bis zum 12. März waren nun schon 230 Tote zu beklagen. Die Lage der Stettiner Juden verschärfte sich. Aus Verbannungsorten wurden Ghettos. 1942 begann das systematische Töten, nachdem Himmler bei einer Inspektion in Lublin im Juli 1942 angewiesen hatte, die noch arbeitsfähigen Personen in Arbeitslager zu verlegen; die übrigen seien zu liquidieren. Danach verliert sich die Spur dieser pommerschen Juden.

Erste Meldungen über die Deportation aus Stettin erschienen schon am 15. Februar 1940 in einigen ausländischen Zeitungen. Das ganze Ausmaß der Tragödie wurde jedoch noch nicht erkannt. Ausländische Diplomaten fragten beim Auswärtigen Amt nach. Dieses wiederum ersuchte das Reichssicherheitshauptamt, das ausländische Echo zu bedenken. Vermutlich untersagte deshalb Hermann Göring am 23. März zunächst weitere Transporte aus dem Reich in die Ostgebiete. Zudem hatte das Generalgouvernement noch mit der massenhaften Zusammentreibung der polnischen Juden zu tun, weshalb von dort Einspruch gegen weitere Zuführungen erhoben wurde. Die nächsten Judentransporte aus dem »Altreich« erfolgten erst im Herbst 1940 aus Süd- und Westdeutschland nach Südfrankreich. Ein Jahr später begannen die Massendeportationen der deutschen Juden in die eroberten Ostgebiete.

Lange war unklar, was das spezielle Motiv der Stettiner Februardeportation war. Möglicherweise ging es um Wohnraum. Am 30. Oktober 1939 hatte Himmler angewiesen, bis zum Februar 1940 alle Juden »aus den ehemaligen polnischen und jetzt reichsdeutschen Provinzen und Gebieten« ins Generalgouvernement umzusiedeln, um die »gutrassigen Familien« aus dem Osten im Reich unterbringen zu können. Am 30. Januar 1940 wies Reinhard Heydrich, Leiter des Reichssicherheitshauptamtes, an, die Wohnungen der Juden zu räumen, da sie aus »kriegswirtschaftlichen Gründen« benötigt würden. Knapp zwei Wochen darauf erfolgte die Deportation.

Nach damaligem Stand der Flugtechnik war der Raum Stettin für westliche Kampfflugzeuge schwer erreichbar, so dass dort die Rüstung forciert wurde. Die 1927 geschlossene Stettiner Vulkanwerft war wieder in Betrieb genommen worden und bei Pölitz war ein großes Hydrierwerk für synthetischen Treibstoff im Bau. Auch der Stettiner Hafen benötigte zusätzliche Arbeitskräfte, u. a. für die anwachsende Verschiffung von Kohle und Erz zwischen Deutschland und Schweden. Als weiteren Grund für die Aktion nannte Zeitzeugin Elsa Meyring den »glühenden Ehrgeiz« des Gauleiters Schwede-Coburg, der seine Provinz »als erste judenrein machen wollte«.

Im vergangenen Jahr konnte die wohl vollständige Namensliste des Transports erstmals veröffentlicht werden. Sie war vom polnischen Judenrat im Auftrag der deutschen Besatzer maschinenschriftlich angefertigt worden; bis zum 7. Mai 1942 folgten handschriftliche Ergänzungen. Die Liste informiert über Heimatort, Geburt, Eltern, Religion, Beruf, Deportationsort und Todesdaten der Opfer. Noch nicht aufgefunden sind bisher die bei der Zusammentreibung im Regierungsbezirk Stettin benutzten Listen. Der relevante Aktenbestand der Gestapo-Leitstelle Stettin ist nach dem Krieg in die Sowjetunion gebracht worden.

Mit dem Februartransport war ein Siebentel der 1932 in Pommern registrierten 7771 Juden »verschickt« worden. Nach einer Sonderzählung gab es im Mai 1939 noch 3329 Juden in der Provinz. Allerdings ist diese Zahl mit der von 1932 nicht vergleichbar, da nach den Nürnberger Rassegesetzen nun auch Personen als Juden bestimmt wurden, die nicht mosaischen Glaubens waren. Ende November 1942 waren noch 177 Juden in der Provinz Pommern registriert, davon 79 in der Stadt Stettin und 27 in Stolp.

Einen Bericht über das Schicksal der Stettiner Juden verfasste der zu den Überlebenden gehörende Arzt Dr. Erich Mosbach 1946. Darin heißt es: »In Belzyce waren Tausende (deutsche und polnische) Juden zusammen getrieben; jeder wusste, was kommen musste. In der Nacht der Aussiedlung gelang es uns mit cirka hundert anderen Personen zu verstecken. Wahrscheinlich am 28. Oktober 1942 umstellte die SS den Ort. Im Morgengrauen drangen die Henker in den Ort, man hörte überall Schießen und verzweifeltes Schreien. Als wir aus unserem Versteck herauskamen, bot sich uns ein grauenhaftes Bild. Überall Leichen.«

Von Prof. Wilhelmus erschien »Geschichte der Juden in Pommern« (2004) und »Auf jeden Wagen kommt es an. Die Namensliste der 1940 aus dem Regierungsbezirk Stettin deportierten Juden« (Sonderheft der Rostocker Zeitschrift »Zeitgeschichte regional«, 2009).

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