Fremd sein in der Zwischenwelt
»The Dishwasher« (Tellerwäscher) richtet sich an Arbeiterkinder an den Hochschulen
»Unsichtbare Klassenschranken«, das waren in den 1960er Jahren die Gründe für die »Bildungsabstinenz der Arbeiter«, wie der Titel einer damaligen Studie von Susanne Grimm lautet. Denn obwohl das deutsche Bildungssystem prinzipiell jedem offen stand, kamen 1961 nur sechs Prozent der Studierenden aus Arbeiterhaushalten, obwohl in diesen mehr als die Hälfte aller Deutschen lebten. Es ist »eine mehr oder minder fremde Welt, deren Unkenntnis für ihn [den Arbeiter] eine nahezu unüberwindbare Aufstiegsbarriere bedeuten kann«, so Grimm in ihrer Studie. Erst im Gefolge der Bildungsreform in den 1970er Jahren stieg der Anteil der Arbeiterkinder an den Hochschulen auf 12,5 Prozent.
Richtige Handhabung des Fischbestecks
Knapp 50 Jahre und etliche PISA-Studien später wird dem deutschen Bildungssystem noch immer bescheinigt, mit massiven Klassenschranken versehen zu sein. Der Anteil von Studienanfängern aus Arbeiterhaushalten hat sich mit rund 13 Prozent im Jahre 2000 gegenüber den 1970er Jahren nicht sehr verändert. Höhere formale Bildung ist in Deutschland noch immer von der sozialen Herkunft abhängig. Klettern trotzdem die Töchter und Söhne aus Arbeiterhaushalten oder anderen bildungsfernen Schichten die Bildungsleiter empor, so geraten sie in ein seltsames Zwischenreich – die alte Welt liegt hinter ihnen, doch in der neuen Welt bleiben sie fremd.
Eine »immer größere soziale Ferne zu den eigenen Eltern, die verarbeitet werden muss«, sei eines der Risiken, denen sich Arbeiterkinder im Studium ausgesetzt sehen, ist dann auch in einem Artikel von »The Dishwasher – Das Magazin für studierende Arbeiterkinder« zu lesen. Das ist ein halbjährliches Periodikum, das jetzt mit der ersten Nummer erschienen ist und sich – einzigartig in Deutschland – an Studierende mit einer sogenannten sozial »niedrigen« Herkunft richtet. Die Einzigartigkeit hat es gemein mit dem Herausgeber, dem »Referat für finanziell und kulturell benachteiligte Studierende« des AStA der Universität Münster. Das Referat existiert seit sechs Jahren und stellt eines der wenigen Gremien dar, die sich mit sozialen Klassenschranken im Bildungsbereich praktisch auseinandersetzen und die eine Interessensvertretung für Studierende aus Arbeiterhaushalten organisieren. Nur an der Universität Wien gibt es ebenfalls ein Referat für finanziell und kulturell benachteiligte Studierende.
Der Titel des Magazins »The Dishwasher« spielt an auf den Mythos des Aufstiegs vom Tellerwäscher zum Millionär. Dass dies meist ein Mythos bleibt, dafür sorgen laut Magazin-Redaktion die »feinen Unterschiede« zwischen den sozialen Klassen, wie sie der französische Soziologe Pierre Bourdieu schildert – das reicht von der richtigen Handhabung des Fischbestecks bis zur noblen Gelassenheit, die auf dem Erbe fußt. In den obersten Chefetagen erkennt man sich quasi am sozialen Geld-Geruch, wie der Reichtumsforscher Michael Hartmann es ausdrückte.
Die erste Nummer des »Tellerwäschers« hat einen thematischen Schwerpunkt »Eltern« und beschäftigt sich unter anderem mit der Schulreform in Hamburg, dem Widerstand wohlhabender Eltern dagegen und den sozialen Konsequenzen des Elterngeldes. Interessant ist ein Interview mit dem Ökonomen Rainer Hufnagel-Person von der Universität Münster über die angeblich überdurchschnittliche Kinderlosigkeit von Akademikerinnen, jüngere Zahlen belegten das Gegenteil. Ein längerer Artikel beschäftigt sich mit der sozialen Auslese an den Unis.
»Wir sind kein Klassenkampfreferat, aber wir wollen ein Bewusstsein für die Diskriminierung von Arbeiterkinder schaffen«, erklärt Reiner Steimel die Zielsetzung des Magazins. Der 23-Jährige mit einem Postboten als Vater studiert in Münster im fünften Semester Geschichte und Anglistik und ist seit Dezember vergangenen Jahres frisch gewählter Referent, ebenso wie seine beiden Kollegen. Das Dreigestirn verwaltet den jährlichen Haushalt von rund 5000 Euro, von denen auch die 700 Exemplare des »Dishwasher« gedruckt wurden. Mit im Bunde beim Münsteraner Arbeiterkinderreferat ist auch Andreas Kemper, der Soziologie studiert. Er kritisiert, dass die soziale Ungleichheit in Deutschland nicht etwa wie Geschlecht oder Ethnie als Diskriminierungstatbestand wahrgenommen und erforscht wird. Klassenspezifische Diskriminierungsformen wie »Vermögen« und »Soziale Herkunft« würden etwa im deutschen Antidiskriminierungsgesetz systematisch ausgeschlossen und befänden sich damit im Widerspruch zum Grundgesetz und der EU-Charta.
Netzwerke studierender Arbeiterkinder
Ein weiteres Ziel des Uni-Referats ist die Vernetzung und das hat es mit den Kommilitonen an der Uni Wien gemeinsam. »In Arbeits- und Diskussionstreffen, aber auch in Form von Tutorien wollen wir Netzwerke zwischen ›Studierenden aus bildungsfernen Schichten‹ knüpfen«, heißt es dort auf der Homepage. Und weiter: »Wir finden es wichtig, Studierende aufgrund ihrer Bildungsherkunft zu vernetzen, da diese oftmals sehr ähnliche Probleme haben. Probleme, die von den Betroffenen meist auf ein individuelles Versagen oder persönliche Unzulänglichkeit zurückgeführt werden. Dennoch zeigt sich, dass sich viele Probleme auf die Bildungsstruktur zurückführen lassen.«
In Deutschland ist nicht nur das Bildungssystem hinsichtlich sozialer Bildungsschranken, sozialer Auslese und Arbeiterkinder an Universitäten als kleine Minderheit ein Problemfall, sondern auch die Thematisierung desselben. Während in angelsächsischen Ländern der Begriff der »social class« geläufig ist, werden hierzulande der Klassenbegriff und die dazugehörigen Verhältnisse noch gerne umgangen. Und auch in Sachen Vernetzung ist man in den USA schon weiter. Dort existiert immerhin eine Organisation von Hochschulangehörigen mit Arbeiterhintergrund, die »working class academics«. Deren Jahres-Tagung will AStA-Referent Kemper 2011 nun nach Deutschland holen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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