Wenn die Zeit nichts heilt
Wie eine Internet-Therapie im Alter ehemaligen Kriegskindern helfen kann
Die Kriegsgeneration hat das Rentenalter erreicht und findet Zeit, um über ihr Leben Bilanz zu ziehen. Viele von ihnen gerieten in ihrer Kindheit zwischen die Fronten und wurden zu Opfern. Mit dem Leben davongekommen und dennoch vom Schrecken gezeichnet: Gerade im Alter brechen ihre Traumata wieder auf. Eine Schreibtherapie bietet Hilfe.
Am Faschingsdienstag 1945 brach über Dresden der Bombenhagel herein. Kurt Fuhrmann (Name geändert) hockte als Dreijähriger im Keller und bangte um sein Leben. Rundum schlugen Bomben ein – erst in der Nacht und dann auch am Tage. Der Junge blieb zwar unverletzt, aber den Schrecken ist er nie wieder losgeworden. Seit seiner Kindheit sei er übernervös, erzählt der heute 68-Jährige. Fuhrmann ist zwar ein angesehener Ingenieur geworden und ein sorgender Familienvater, aber auch ein launischer Grübler, der sich immer wieder fragte, warum ausgerechnet er überlebt habe. Wieso kommt ein kleiner Junge so glimpflich aus einem Inferno heraus, das 20 000 Tote forderte? Kurt Fuhrmann konnte darauf keine Antwort finden.
Über Jahre hat der Bauingenieur die Erinnerungen an die Luftangriffe unterdrückt. Aber losgeworden ist er sie nicht. Mit dem Eintritt ins Rentenalter, als er wieder mehr Zeit für sich hatte, kamen die Gedanken daran zurück. Er wachte nachts ständig auf und hatte wieder die Bilder der Bombennächte vor Augen. Während neben ihm seine Frau schlief, befiel ihn erneut eine Unruhe, die er so gut kannte, und gegen die er nichts ausrichten konnte.
Kurt Fuhrmann verzweifelte. Psychoanalytiker wie Erik H. Erikson (1902-1994) sehen im letzten Lebensabschnitt eines Menschen die Aufgabe darin, das Leben noch einmal Revue passieren zu lassen, um aller gemachter Fehler zum Trotz mit sich selbst ins Reine zu kommen. Gerade das gelang Kurt Fuhrmann nicht. Auch seine Ehefrau konnte ihm nicht helfen. Beiden war klar, dass er etwas tun musste. In einem Berliner Wochenblatt las er schließlich eine Anzeige, dass für ehemalige Kriegskinder, die an einer posttraumatischen Belastungsstörung leiden, eine Internet-Schreibtherapie angeboten wird. »Lebenstagebuch« nennt sich dieses Projekt des Berliner Zentrums für Folteropfer (bzfo) in Zusammenarbeit mit der Universität Greifswald, in dem die Patienten ihre Biografien aufarbeiten.
Aber, eine virtuelle Couch ohne direkten Kontakt zu Psychologen – wie soll das gehen? Das habe sogar einen großen Vorteil, meint Maria Böttche, die das Projekt wissenschaftlich betreut. Viele ihrer Patienten konnten sich eine Therapie überhaupt nur vorstellen, wenn sie anonym bleiben und von zu Hause aus handeln können. Da sinke die Hemmschwelle, aktiv zu werden. Das Schreiben ermöglicht den Patienten eine intime Auseinandersetzung mit ihrem Leben, und trotzdem wird ein Abstand zur Empfängerin Maria Böttche gewahrt. Gerade für die ältere Generation, die ein hohes Schamgefühl habe, sei diese Internet-Therapie eine sensible Methode, um sich den belastenden Erlebnissen noch einmal anzunähern, meint Philipp Kuwert, Psychotraumatologe an der Universität Greifswald.
Der Patient schreibt zu jedem Lebensabschnitt einen Aufsatz. Nach jeder Abhandlung gibt die Psychologin Maria Böttche ein schriftliches Feedback und versucht, zu einer objektiven Einschätzung der Erlebnisse anzuregen. »Häufig neigen ehemalige Kriegskinder zu negativen Bewertungen«, sagt die Psychologin, die Patienten wie Kurt Fuhrmann begleitet, wenn sie in einen inneren Monolog treten und noch einmal Schritt für Schritt ihren eigenen Lebensweg rückverfolgen. Lückenlos, ohne die wunden Punkte auszulassen: Zwei Texte verfassen die Patienten explizit zu ihrem traumatischen Erlebnis.
»Die Teilnehmer werden aufgefordert, so zu schreiben, wie es ihnen in den Sinn kommt«, erklärt Kuwert das Konzept. Es gehe nicht um einen fehlerlosen Text und auch nicht um ein kunstvolles Ergebnis. Der Zweck des Schreibens sei nicht, eine Autobiografie zu verfassen, sondern die Patienten sollen sich noch einmal in die traumatische Situation hineinversetzen und sie als Bestandteil ihres Lebens annehmen. Die Psychologen müssen während der sechswöchigen Therapie behutsam vorgehen. Denn viele ihrer Patienten haben Herz-Kreislauf-Beschwerden, und eine unsensible Konfrontation mit dem Trauma kann nicht einschätzbare Risiken hervorrufen. Deshalb sei gerade eine biografische Aufarbeitung sinnvoll, erklärt Böttche, schließlich haben die ehemaligen Kriegskinder mit ihren traumatischen Erlebnissen nun schon ihr ganzes Leben verbracht. Es gelte, das Bewusstsein dafür zu wecken, in welcher Weise sie das Trauma beeinflusst und verändert habe. Die Patienten sollen lernen, darüber zu reflektieren.
Denn Menschen, die ein traumatisches Erlebnis nicht verarbeiten können, leben wie Kurt Fuhrmann in einen Teufelskreis: »Mit einem Trauma verbundene Gefühle sind für sie nur schwer zu ertragen, so dass sie vermeiden, sich damit auseinanderzusetzen«, erklärt der Mediziner Philipp Kuwert. Das belastende Ereignis werde aus dem Leben verdrängt, was allerdings bedrohlich sei. »Die Betroffenen wollen nicht auf die Erinnerung zurückgreifen, aber sie reagieren umso bewusster auf Schlüsselreize. Eine Frau, die in einem Raum vergewaltigt wurde, in dem eine Standuhr tickte, kann Flashbacks bekommen, sobald sie irgendwo eine Uhr ticken hört.« Das ist das Hauptproblem einer solchen Belastungsstörung: Die Traumatisierten wollen an ihre schlimmen Erlebnisse nicht mehr denken, werden aber von ihren Erinnerungen immer wieder heimgesucht. Das schränkt die Lebensqualität ein.
Kurt Fuhrmann hat sich immer davor gehütet, seine Nervosität mit dem Dresden-Trauma zu rechtfertigen. Er wollte sich »nicht auf seinen Schwächen ausruhen«, sagt er. Also konzentrierte er sich ganz auf seinen Beruf, in dem er sich bewähren wollte. Fuhrmann war Bauingenieur im Kernkraftwerk Lubmin bei Greifswald. 1973 ging dort der erste Reaktor in Betrieb. Zusätzlich waren vier weitere Reaktoren im Bau. 1982 forderte die Regierung eine schnellere Fertigstellung der Blöcke fünf bis acht. Fuhrmann entwickelte in einer Dissertation 20 Thesen zum Reaktorbau, die punktgenau umgesetzt wurden. Darauf blickt Fuhrmann stolz zurück.
Auf der Großbaustelle waren etwa 10 000 Arbeitskräfte beschäftigt, und Kurt Fuhrmann war in einer leitenden Funktion. »Die Anforderungen auf der Baustelle wurden immer größer«, erinnert er sich: »Neue Direktoren sollten noch schnellere Ergebnisse vorlegen, es war eine unglaubliche Hektik.« Doch Fuhrmann konnte sich in dieses Treiben nicht mehr weiter einbringen und meldete sich krank. Das sei nichts Ungewöhnliches, meint Philipp Kuwert. Menschen mit einer Belastungsstörung nach einem Trauma reagierten häufig sensibler auf Stress. Kurt Fuhrmann ließ seinen Erschöpfungszustand stationär behandeln und gab die leitende Anstellung in Lubmin auf. Auch seine erste Ehe ging in dieser Lebenskrise kaputt, er stand vor einem Scherbenhaufen. Nur mit dem Leben sei er davongekommen, sagt er und fügt an: »Wie in Dresden 1945.« Immer wieder vergleicht er Ereignisse in seinem Leben mit diesem Schlüsselerlebnis.
Maria Böttche behandelt viele Menschen, die im letzten Kriegsjahr noch zwischen die Fronten gerieten. 70 zivile Kriegsopfer konnten in dem Projekt bislang therapiert werden. Alle ihre Patienten schleppen seit Jahrzehnten eine traumatische Last mit sich herum, die nicht leichter wird, weil in diesen Fällen die Zeit nicht alle Wunden heilt. Viele ihrer Patienten sind Frauen aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten, die auf ihrer Flucht vergewaltigt wurden. Die meisten von ihnen konnten zwar einen unauffälligen Lebensweg eingeschlagen – haben geheiratet und Kinder bekommen –, dennoch sei es ihnen häufig nicht gelungen, eine emotionale Beziehung mit ihren Männern einzugehen, weiß Böttche. »In anderen Fällen fußen die Erinnerungen nicht nur auf den eigenen Erlebnissen, sondern auf Erzählungen etwa von den Eltern, die sie als eigenes Leid verinnerlicht haben«, meint die Psychologin. Es sei völlig unerheblich, woher die Bilder kämen, die sich albtraumhaft in einem Gedächtnis manifestiert haben.
Kurt Fuhrmann heiratete ein zweites Mal und fand mit 60 noch einmal eine anspruchsvolle Stelle als Bauingenieur. Erneut gelang es ihm, sein seelisches Befinden zur Seite zu schieben. Doch immer, wenn er einmal zur Ruhe kam, begannen ihn die Schuldgefühle zu plagen: Warum hat ausgerechnet er überlebt? Hat sich für sein Überleben etwa jemand geopfert? An der Vergangenheit konnte er jedoch nichts mehr ändern. Umso überraschender war für ihn die Wirkung der Schreibtherapie. Denn Fuhrmann besann sich auf seine Tante, die ihn aus dem Keller herausholte. Sein Leben lang fühlte er eine tiefe Verbundenheit mit ihr, scheinbar unbewusst. Erst durch die Therapie lernte er sie nicht nur als Verwandte, sondern darüber hinaus auch als Retterin zu schätzen. Dadurch fand Kurt Fuhrmann schließlich das, wonach er jahrelang gesucht hat – nämlich nach einem beruhigenden Abschluss seiner Grübeleien. Seine Gedanken drehen sich nun nicht mehr im Kreis.
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