Anführer der Antisozialen

Guido Westerwelle geht die Umverteilung nach oben zu langsam

  • Harry Nick
  • Lesedauer: 3 Min.
Keine Frage: Herr Westerwelle hat an Profil gewonnen. Er ist jetzt der unbestrittene Anführer der antisozialen, antisozialistischen Fronde in Deutschland. Die wird nicht nur von der FDP formiert, sondern sie reicht, wenn es um praktische Politik geht, von der liberal-konservativen Union bis zu grünen Mitläufern. Seit längerem schon findet man sie unter ihrem gemeinsamen Namen: die Neoliberalen.

Deren Führer tarnen ihre sozialreaktionären Absichten immer mit massenwirksamen Stammtischparolen. Die von Herrn Westerwelle bevorzugte Parole heißt: Arbeit muss sich lohnen, die Arbeitenden sollen ein höheres Einkommen haben als die Hartz IV-Empfänger. Wer könnte da dagegen sein?

Worum es eigentlich geht, bleibt hinter dieser Parole natürlich verborgen. Das höhere Einkommen der Arbeitenden gegenüber Hartz IV-Empfängern kann auf zwei Wegen erreicht werden: Durch Erhöhung der Löhne oder durch Senkung der Sozialleistungen. Hat irgendjemand irgendwann Forderungen nach steigenden Löhnen von Herrn Westerwelle und den politisch Seinesgleichen gehört?

Dafür klar und deutlich das direkte Gegenteil. Das Anliegen der neoliberalen Fronde muss nicht erraten werden; man kann es bei genauerem Hinhören und Hinschauen von ihnen selbst erfahren: Demontage des Sozialsystems. Das Sozialsystem müsse auf den Prüfstand, brüllt Herr Westerwelle. Die großen Erfolge der Neoliberalen sind ihm immer noch zu wenig.

Im Jahre 1960 betrug die Steuer- und Abgabenbelastung der lohnabhängig Beschäftigten 15,7 Prozent und im Jahre 2007 36,0 Prozent; die Abgaben- und Steuerbelastung der Unternehmen verringerte sich von 23,0 auf 11.4.Prozent. Der Anteil der Massensteuern am Steueraufkommen des Staates (Lohnsteuer, Mehrwertsteuer, Mineralölsteuer) stieg im selben Zeitraum von 37,6 Prozent auf 69,8 Prozent; der Anteil der Unternehmens- und Vermögenssteuern sank von 27,8 auf 8,5 Prozent.

Das Poltern der FDP gegen den Verteilungsstaat ist verlogen, weil sie selber eine sehr aktive Umverteilungspolitik betreibt – zugunsten der Reichen. Für das »Mehr Netto vom Brutto« hat sie gesorgt – für die Wohlhabenden. Der Spitzensteuersatz ist unter der rot-grünen Koalition von 53 Prozent auf 42 Prozent gesenkt worden. Die von der FDP vorgesehene Steuerreform sieht eine weitere Senkung auf 35 Prozent vor. Die radikale Umverteilungspolitik der Neoliberalen hat zur Verarmung großer Teile der Bevölkerung, aber auch des Staates, zu galoppierender Staatsverschuldung geführt. Das Sozialsystem, das Gesundheitssystem können in der Tat immer schwerer finanziell gesichert werden dank dieser Politik. Diese Fakten werden von den liberalen Demagogen wiederum als Argument für weiteren Sozialabbau gebraucht. Es gibt nur einen Ausweg aus diesem fehlerhaften Kreislauf: Die Richtung der Umverteilung muss umgekehrt werden: Mehr für den Staat, die Arbeitenden und die Sozialleistungen, weniger für diejenigen, die schon viel haben.

In den programmatischen Dokumenten der Neoliberalen wird übereinstimmend eine Überforderung der Sozialsysteme beklagt und, meist unausgesprochen, eine Verringerung der Sozialleistungen eingefordert. In den Begründungen solcher Politik fehlen nie die Bezüge auf Freiheit und Selbstbestimmung. Sozialleistungen werden in die Nähe staatlicher Bevormundung, der Unmündigkeit der Bürger gerückt. »Das Fundament der Sozialen Marktwirtschaft ist bedroht. Die sozialpolitische Bevormundung nimmt den Bürgern Freiheit und schwächt das wirtschaftliche und soziale Potenzial unseres Landes«, heißt es im Jenaer Aufruf 2008 der Institute, Stiftungen und Verbände, die sich für eine »Erneuerung der Sozialen Marktwirtschaft« einsetzen. Und weiter: »Der Umverteilungsstaat ist nicht die Soziale Marktwirtschaft… Eine ausgeuferte Umverteilungspolitik lähmt in weiten Teilen der Bevölkerung das Streben, sich um sozialen Aufstieg zu bemühen. Das ist ein ernstes Krankheitssymptom unserer Gesellschaft.« Darüber, wie diese Gefahr abzuwenden ist, braucht der Leser dieses Aufrufs nicht zu rätseln.

überschwänglich erzählt Herr Westerwelle von den fleißig Arbeitenden, die, – unglaublich! – früh aufstehen müssten. Wie es den wirklich Notleidenden geht, erfährt man von Herrn Westerwelle nicht, auch nicht von den Jenaer Aufrufern. Klaus Wowereit, der Berliner Regierende Bürgermeister, kritisierte die sozialfeindlichen Ausfälle des Herrn Westerwelle und sagte, ein Hartz IV-Einkommen wünsche er ihm aber nicht. Warum denn eigentlich nicht?

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