- Kultur
- Berlinale 2010
Heimat Neukölln
Der Ton ist schnell gegeben: Streetdance, HipHop, Migranten und Schulschwänzer. Aber trotz der erwähnten Mathe-Übungen über Hartz IV-Geld und „Kartoffelparties“ bei Verlängerung einer Aufenthaltsgenehmigung erfüllt der Dokufilm „Neukölln Unlimited“ keines der üblichen Klischees über den sogenannten Problembezirk: Damit wird im Gegenteil gespielt und zum Kern der Sache gegangen. Hier geht es um den Alltag der Familie Akkouch, die seit 18 Jahren ohne sicheren Aufenthaltsstatus in Deutschland lebt und immer wieder von der Abschiebung in den Libanon bedroht ist.
„Aus der Kindheitswelt raus“
Die erste Abschiebung war so ein Familientrauma, dass Hassan – der Ältere der Geschwister Akkouch – sich auf einmal aus der Kindheitswelt rausgeschmissen fühlte. Ihm war dann klar, dass seine Familie jederzeit ihre Heimat, den Berliner Bezirk Neukölln, verlieren kann.
Mit seiner Schwester Lial übernimmt Hassan den Kampf um das Bleiberecht der Familie. Die beiden Jugendlichen beschäftigen sich ehrlich mit den komplizierten deutschen Behörden und dem unfassbaren Ausländerrecht, das sowieso „in jedem Einzelfall anders ist“, wie es ihnen lakonisch bei der Ausländerberatung gesagt wird. Trotz Abiturklasse und laufender Ausbildung versuchen die Beiden mit Bühnenauftritten das nötige Geld zu verdienen und damit ihrer Familie den Aufenthalt zu ermöglichen.
„Hampelmänner auf der Bühne“
„Wir fühlen uns schon wie Hampelmänner auf der Bühne, wenn wir für Geld vor Leuten auftreten, die gemütlich Schnitzel essen“, sagt Hassan vor der Kamera. Musik und Tanz sind im Dokufilm sehr präsent. Mal als Geldquelle, mal als Ventile, als Identitätsmerkmal oder auch als Disziplin sind sie reale Existenzgrundlage. Der jüngere Bruder Maradona, der seit der Abschiebung seine Integration in der deutschen Gesellschaft deutlich in Frage stellt, wird dank dem Tanzen sogar von der Schule der Straße geholt und wieder auf den richtigen Weg gebracht.
Alles ist bunt, sportlich, musikalisch und die Akkouchs sind echt talentiert. Aber kein Märchen, das Trauma ist da. Die Mutter ist Epileptikerin, ein Kind litt unter Bulimie, ein anderes unter ADS. Die Tragödie der Familie auf der Suche nach der Anerkennung ihrer Heimat ist durch wunderbare Animationen gut spürbar.
„Sehr bedauerlich“
Trotz all dieser alltäglichen Schwierigkeiten bleibt der Dokufilm leicht und hoffnungsvoll. Wenigstens was die Jugendlichen angeht. Sehr bedauerlich sind im Gegenteil die Wörter des Innensenators von Berlin zu Hassans Bitte um Bleiberecht: „Wir können über Zeit reden“. Und dazu noch eine Rede à la Dr. Körting über die Migrantenkinder, die meistens „ok“ sind, und über die Eltern, die dagegen meistens „den Staat beschissen“. Ziemlich unkonstruktive „Migrantenfamilienpolitik“, Monsieur Körting, „sehr bedauerlich, sehr bedauerlich“.
Aber gut, wenn es pauschal verhandelt, pardon behandelt wird, vielleicht wird es mit den Akkouchs doch noch möglich sein, aus Berlinern Deutsche zu machen.
Peace.
Und gehen Sie ins Kino. Die Doku ist erfrischend. Bravo à l’équipe!
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Coup de Coeur: mehr Infos über Hassans Kunstleben
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