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Die Gesundheitsreform Obamas hängt am Tropf

USA-Wissenschaftler: Chance für Modernisierung besteht nur jetzt

  • Lesedauer: 4 Min.
Vor dem Treffen zur umstrittenen Gesundheitsreform am Donnerstag hat USA-Präsident Barack Obama am Wochenende Demokraten und Republikaner zu einem Kompromiss aufgerufen. Sein Entwurf soll heute auf der Internetseite des Weißen Hauses veröffentlicht werden. Mit Wirtschaftswissenschaftler Howard Rosen (53) vom Institute for International Economics in Washington, dessen deutsch-jüdische Mutter 1938 vor den Nazis floh und der im Berliner Kennedy-Museum über »Die Sozialpolitik von Kennedy bis Obama« referierte, sprach für ND Reiner Oschmann.
Die Gesundheitsreform Obamas hängt am Tropf

Warum ist es so schwierig, das Gesundheitswesen in den USA zu zivilisieren?
Als Erstes muss man daran erinnern, dass es bei Obamas Gesundheitsreform um Krankenversicherung, nicht um Gesundheitsversorgung im engen Sinne geht. Notfallhilfe steht nicht in Frage. Niemand in Lebensgefahr wird vom Arzt abgewiesen, weil er keine Versicherung hat. Traditionell werden Versicherungen in den USA von Unternehmen angeboten. Für Rentner gibt es seit Präsident Johnson in den 1960er Jahren das Medicare-, für sozial Bedürftige das Medicaid-Programm. Veränderungen auf dem Arbeitsmarkt betreffen die Krankenversicherung: Immer mehr Konzerne, die ihre Beschäftigten früher gegen Krankheit versicherten, tun das nicht mehr. Selbstständige erhalten ebenfalls keine Versicherung, sodass die Zahl der Unversicherten im arbeitsfähigen Alter stark wuchs.

Welche Zahl trifft zu? Mal ist von 47 Millionen, mal von 31 Millionen die Rede?
Erhebungen zeigen, dass zwischen 40 und 45 Millionen Bürger unversichert sind. Doch das schließt jene ein, die von sich aus auf Versicherungsschutz verzichten. So kommt die Differenz zustande.

Was würde die Reform – nach jetzigem Stand – ändern?
Nehmen wir nur den Grundgedanken aus dem 3000 Seiten starken Gesetzentwurf: Er schreibt erstmals die individuelle Verpflichtung einer Krankenversicherung vor. Wer ablehnt, muss eine Gebühr bezahlen.

Wie hoch ist die?
Vergleichsweise gering, jedenfalls viel kleiner, als wenn jemand ohne Versicherung eine Notbehandlung im Krankenhaus bezahlen müsste. Die große Frage ist im Moment: Was für eine Versicherung wählen? Die privaten Versicherer würden das Mandat zur Pflichtversicherung zur Anhebung der Prämien benutzen.

Obama versucht zu kontern, indem er die Versicherungen unter anderem dazu bewegen will, auch Klienten mit Vorerkrankungen zu erschwinglichen Tarifen zu versichern, die bei den Privatversicherern bisher chancenlos waren. Außerdem will er die Versicherungen zu einer kleinen, aber wichtigen Leistung anhalten: bisher Unversicherten eine Anfangskonsultation beim Arzt zur Erfassung ihrer Krankengeschichte zu bezahlen. Die Opposition hat dieses Anliegen verteufelt und – wie Ex-Vizepräsidentschaftskandidatin Sarah Palin – Obama vorgeworfen, er wolle »die Oma töten«.

Das wirft wieder die Anfangsfrage auf: Weshalb ist der Widerstand gegen eine Zivilisierung des Gesundheitswesens so groß?
Weil es um so viel Geld und so viele Interessen geht: Ärzte, Krankenhäuser, die Pharmaindustrie, die Universitäten, die Forschung. Ein Moloch!

Welche Substanz wird das Reformgesetz am Ende haben?
Es wäre eine Tragödie, wenn Obama mit leeren Händen bliebe. Das wird aber vermutlich nicht geschehen. Ich rechne damit, dass die Versicherungen sich am Ende zu Versorgungsmindeststandards verpflichten werden, die Klienten die Wahl erleichtern und Versicherungen die bisherige Willkür erschweren werden. Beispiel: Als ich selbstständig war, versicherte ich mich selbst und zahlte monatlich 500 Dollar Prämie. Bei einer Magenerkrankung wurde die Medikation teurer und meine Versicherung teilte mir im Juni mit, dass sie bis Ende des folgenden Jahres die Medikamente nicht mehr begleichen werde. Ich zahlte monatlich 500 Dollar Krankenversicherung und musste trotzdem die Medizin aus eigener Tasche begleichen. Die blanke Willkür!

Hat Obama in dieser Frage bisher zu ängstlich gehandelt?
Ich habe eine Meinung dazu, will sie aber nicht öffentlich erörtern.

Wird es ein Reformgesetz vor den Wahlen im November geben?
Wenn ja, wird es vor der Kongresspause im Sommer passieren. Es wird weniger umfassend sein und dürfte die erwähnten Mindeststandards enthalten.

Falls nicht, ist die Reform für den Rest der Obama-Präsidentschaft tot?
Ja. Die Chance besteht nur jetzt, sonst war es das fürs nächste Jahrzehnt.

War es eine gute Idee, die Republikaner zum Gipfel einzuladen?
Grundsätzlich ja, aber so feindselig wie die Atmosphäre zwischen Republikanern und Demokraten ist, wird es nicht funktionieren. Die Einladung entfaltet schon ihre Bumerangwirkung: Einige Republikaner sagen, sie würden nicht kommen. Wenn eine Präsidenteneinladung öffentlich ausgeschlagen wird, ist das eine stärkere Demonstration, als wenn man die Einladung annimmt und danach nichts tut.

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