Aufbauhelfer mit langer Halbwertzeit
Der jüngste Stein des Anstoßes ist ein Rennkurs, über den Cross-Motorräder brettern. Ihre Reifen fräsen tiefe Rinnen in die Erde und wirbeln Wolken von Staub auf – Staub, der besser nicht vom Wind verweht werden sollte, sagt Frank Lange. Auf dem Gelände, über das die Rennpiloten ihre dröhnenden Maschinen steuern, hat die Wismut einst das Geröll aus einem Schacht abgekippt. Das ist zwar etliche Jahrzehnte her, aber noch immer ist der Dreck »radiologisch stark belastet«, sagt Lange. Solange man Gras über die alte Halde in Settendorf wachsen lässt, stört das kaum; für Motorsport aber ist die Fläche ein denkbar ungeeignetes Gelände: Der Verein, der sich das Areal übertragen ließ und womöglich irgendwann zu deren Sanierung verpflichtet wird, »weiß noch gar nicht, auf was er sich da eingelassen hat«.
Frank Lange hat gelernt, welche Gefahren in alten Halden stecken. Der stämmige Schnauzbartträger ist zwar Diplomingenieur für Wasserwirtschaft; tagsüber sieht er im Auftrag eines Thüringer Zweckverbands auf Baustellen für Kläranlagen und Abwassersammler nach dem Rechten. An diesem Abend aber sitzt er in einem nüchternen Raum im katholischen Gemeindezentrum der thüringischen Kleinstadt Ronneburg. Hier trifft sich der Kirchliche Umweltkreis – wie an jedem ersten Montag im Monat seit über 20 Jahren. Der kleine Zirkel gilt als die einzige Umweltgruppe in einer Region, in der seit den frühen 1990er Jahren die Altlasten des Uranbergbaus saniert werden, den die Wismut knapp vier Jahrzehnte auch im Revier um Ronneburg betrieb. Die Truppe verfügt über bemerkenswerte Ausdauer: »In all den Jahren«, sagt Lange, »haben wir unser Treffen nicht ein einziges Mal ausfallen lassen.«
Das erstaunt besonders, als die organisatorischen Bande nicht besonders eng sind: »Wir sind nicht einmal ein eingetragener Verein«, sagt Lange, der 1988 zu den Mitbegründern des Umweltkreises gehörte. In jenem Jahr hatte es in einer Ronneburger Kirche eine Lesung aus einem Buch gegeben, das nicht nur in der Wismut-Region für enormen Wirbel sorgte. Unter dem Titel »Pechblende« hatte Michael Beleites, ein junger Präparator vom Museum Gera, private Recherchen veröffentlicht, mit denen zum ersten Mal die dramatischen Folgen des Uranbergbaus für die Umwelt im Süden der DDR öffentlich thematisiert wurden. Die Beschreibungen von kahlen Halden, verdreckten Bächen und dem Bergbau geopferten Siedlungen, vor allem aber die Schilderung der unsichtbar-strahlenden Nebenwirkungen des Urans waren bis dato ein Tabu gewesen – selbst in der Wismut sei, wenn es um das Uran ging, nur verharmlosend vom »Metall« die Rede gewesen, sagt Beleites, der nach der Veröffentlichung starken Repressalien ausgesetzt war.
In Orten wie Ronneburg traf das Buch einen Nerv, erinnert sich Lange. Der heute 51-Jährige stammte aus einer Bergmannsfamilie und hatte einst selbst im Schacht arbeiten wollen – was ihm sein Vater verbot: Ihm hatten, wie Tausenden Kumpeln, das Uran und der Staub die Gesundheit ruiniert, ein Schicksal, das er seinem Sohn ersparen wollte. Lange nahm
später auch Anstoß an den Umweltfolgen eines am Ortsrand von Ronneburg gelegenen Uran-Tagebaus, der mit 240 Metern zu den tiefsten in Europa gehörte. Er war offenbar nicht der Einzige: Als der Pfarrer nach der Lesung zum Treffen einlud, kamen 15 Interessenten, »davon freilich drei Gummiohren«, wie sich später herausgestellt habe. Damit war der Umweltkreis entstanden, der mit spektakulären Aktionen auf die Folgen des Bergbaus aufmerksam machen wollte, etwa mit weißen Laken, die auf dem Kirchendach gespannt werden sollten und wohl nicht lange weiß geblieben wären. Dazu kam es nicht; Briefe an die Lokalzeitung entstanden aber ebenso wie eine kleine Ausstellung.
Riesig war der Zuspruch freilich selbst in der kurz darauf anbrechenden, bürgerbewegten Euphorie des Aufbruchs aus der DDR nicht, sagt Hans-Dieter Barth. Der Chemiker, der zunächst bei der Wismut hatte arbeiten wollen, kam 1979 in die Region und war erschüttert über den Dreck, den viele der Einheimischen freilich gar nicht mehr sahen – oder als unabwendbare Folge des Bergbaus hinnahmen, der schließlich seit der Gründung der Sowjetischen und späteren Sowjetisch-Deutschen Aktiengesellschaft im Jahr 1947 für Arbeit und Auskommen sorgte: Allein in fünf Schächten in der Region Ronneburg verdienten bis zu 15 000 Bergleute ihr Geld. Wirtschaft und Politik brauchten das Uran. Dass dabei Ortschaften wie Bad Schlema mit seinem einst weithin bekannten Radon-Kurbad fast verschwanden; dass Landschaften wie das als Ausflugsziel beliebte Gessental bei Ronneburg verwüstet wurden; dass bei der Verarbeitung des Uranerzes riesige Schlammteiche zurückblieben, aus denen der Wind giftige Staubwolken aufwirbelte – das nahmen viele Alteingesessene hin. Barth, der seit 1990 im Umweltkreis mitarbeitet und seit elf Jahren dessen Sprecher ist, wollte das aber nicht. »Wir bildeten einen Gegenpol«, sagt er – und fügt hinzu: »Man macht sich damit nicht automatisch beliebt.«
Daran hat sich in den 20 Jahren seither wenig geändert – auch wenn die Bedingungen, unter denen die kleine Bürgerinitiative tätig ist, völlig andere geworden sind. Kurz nach dem Ende der DDR wurde die schon in den 80er Jahren kaum noch rentable Förderung des Urans beendet; inzwischen läuft in der Region ein groß angelegtes Sanierungsprogramm, bei dem Halden abgetragen, Schächte geflutet, Schlammteiche abgedichtet und Grubenanlagen abgebrochen werden. Das Programm wird bis zum Ende der »Kernsanierung« im Jahr 2015 rund 6,4 Milliarden Euro gekostet haben, hat aber wegen der auch später noch nötigen Reinigung von austretendem Wasser nach Überzeugung vieler Fachleute »Ewigkeitscharakter«. Zuständig ist die Wismut GmbH, ein Sanierungsunternehmen, bei dem viele Mitarbeiter der früheren SDAG Wismut tätig sind und bei dem die meisten Menschen in der Region die Arbeiten daher in besten Händen sehen. Eine kleine, beharrliche Truppe aber schaut lieber ein wenig genauer hin. »Wir sind denen immer wieder auf die Füße getreten«, sagt Lange. Dass die Wismut-Sanierung heute im Wesentlichen als Erfolg gelten könne, sei, fügt er hinzu, »auch unserem ständigen Nörgeln geschuldet«.
Dass er mit dem Betriff »Nörgeln« ein wenig untertreibt, weiß Lange selbst. Obwohl von Haus aus keine Experten für Uranbergbau, haben sich die Mitglieder des Umweltkreises in mehr als 21 Jahren tief in die Materie gewühlt. Sie sind dabei nicht auf Krawall und Alarmismus aus. Als ein Reporter über sie berichten wollte, aber als erstes »nach den Toten fragte«, waren sie bedient; und als in den Medien nach der Eröffnung der Bundesgartenschau Gera-Ronneburg, mit der 2007 die erfolgreiche Sanierung der Uranlandschaft gefeiert wurde, nur die Frage erörtert wurde, welches Strahlenrisiko Mütter mit Kindern bei einem etwaigen Besuch eingehen, waren sie über das Niveau der Debatte entsetzt. Lange, Barth und ihre derzeit fünf Mitstreiter kritisieren die unzureichende Abdeckung von Halden, weisen auf Risiken bei bestimmten Abläufen für die Flutung von Schächten hin oder warnen vor der Nutzung von alten Haldengeländen – mit fachlichem Wissen, das ihnen wenn nicht Zuneigung, so doch immerhin Respekt selbst bei der Wismut GmbH eingetragen hat. Vertreter des Unternehmes nahmen einige Jahre lang sogar regelmäßig an ihren Sitzungen teil, heißt es stolz. »Meistens haben wir uns aber bei denen selbst eingeladen«, sagt Lange und setzt sein schelmisches Lachen auf. Wie eng der Kontakt war, hing vom jeweiligen Wismut-Management ab. Das wechselte freilich, die Umweltgruppe blieb: »Wir haben«, sagt Barth stolz, »fünf Wismut-Geschäftsführer überlebt.«
Dass die Truppe, in der nach Langes Worten »nie mehr als acht und nie weniger als fünf« Mitstreiter arbeiteten, so lange durchhielt, ist bemerkenswert – zumal sie ein beachtliches Arbeitspensum bewältigt. An diesem Montagabend stapeln sich auf dem Tisch dicke Packen von Papier: Protokolle einer Besprechung mit Wismut-Management und Bürgermeistern, Manuskripte für Artikel, die in Fachzeitschriften wie dem »Strahlen-Telex« veröffentlicht werden, Themenlisten, die im Gespräch mit Behörden oder Politikern abzuarbeiten wären. Derzeit dreht sich alles um die alten Halden wie in Settendorf, die von der Wismut GmbH
nicht saniert werden, weil dort 1990 kein aktiver Bergbau mehr betrieben wurde, und auf denen viele Kommunen nun gern Wohnhäuser bauen oder Gewerbe ansiedeln würden – obwohl sie, wie man beim Umweltkreis anmerkt, noch ewig strahlen. Deshalb muss Geld für eine Sanierung her oder ein Gesetz, dass die Nutzung untersagt und die Areale unter strengen Schutz stellt. Vielleicht, regt einer in der Runde im Gemeindehaus an, sollte man die CDU-Ministerpräsidentin Christine Lieberknecht ansprechen; sie sei immerhin einst Pfarrerin gewesen, »und
wir sind ein kirchlicher Umweltkreis«.
Allerdings: Die Gruppe ist nicht nur das – und vielleicht liegt darin ein Grund ihrer ausdauernden Energie. In der Runde sitzen Katholiken, Protestanten und Konfessionslose; außerdem »sitzen fast alle Parteien am Tisch«, sagt Lange – von ganz links bis konservativ. Und weil es im Umweltkreis keinen Vorstand und keine Gremien gibt, kann und muss jeder mitarbeiten – je nach Interessenlage: Neben dem Wasserwirtschafler Lange und dem Chemiker Barth gibt es etwa einen Hobby-Historiker, einen Religionspädagogen und einen Ex-Kumpel, der zwölf Jahre bei der Wismut gearbeitet hat. Sie eint ein Anspruch, den Lange in schlichte Worte fasst: »Wir möchten unsere Welt einmal geordnet übergeben und keine Schäden hinterlassen.« Gerade in einer Region, in der Hügel wie der am Rand von Settendorf strahlen werden, so weit man denken kann, schafft so etwas nur eine Truppe, die selbst eine sehr, sehr lange Halbwertzeit hat.
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