Alice, der Spiegel und die Studenten
Bologna-Konferenz in Budapest und Wien
War der erste Teil der Konferenz in Budapest mit einer hektischen Parade ministerieller Statements im ungarischen Parlament kaum berichtenswert, wurden die 47 europäischen Delegationen und ihre internationalen Gäste nach der gemeinsamen Fahrt im »Nostalgiezug« und der anschließenden festlichen Gala am Donnerstagabend in der Wiener Hofburg warm miteinander. Wenngleich die Anti-Bologna-Proteste und Straßenblockaden österreichischer und europäischer Studierender den Ministern eine Verspätung bescherten, hatte man am Freitag bei den Konferenzteilnehmern fast den Eindruck, als seien sie sogar dankbar für diese negative öffentliche Resonanz. Es war, als würde die Ablehnung der Demonstranten den Ministern ihre neue, soziale Mission bestätigen. Die Konferenz gab sich reuig und optimistisch.
Die Proteste, heißt es in der Abschlusserklärung, erinnerten daran, dass einige Bologna-Reformen nicht so gut gelaufen seien. Man erkenne das an und gelobe, der Kritik von Studenten und Lehrkräften Gehör zu schenken. Auch Staaten ohne unzufriedene Studenten haben die Deklaration unterschrieben, denn der Bologna-Prozess als Instrument für nationale Hochschulreformen, als Plattform der gemeinsamen Reflexion über ein modernes Wissenschaftssystem und die Bologna-Konferenzen als Forum für internationale Kontakte funktionieren gut.
Dominant in vielen Konferenzbeiträgen und stärker betont als in allen vorherigen Bologna-Kommuniques ist das Bekenntnis der Minister zur »sozialen Dimension«. Eine offene Hochschule als öffentliche Aufgabe, die Bemühung, möglichst großen Bevölkerungsteilen eine Hochschulausbildung zu ermöglichen, eine den gesellschaftlichen Aufgaben verantwortliche Hochschule, die einen egalitären Bildungsanspruch vertritt und verwirklicht – so könnte man dies Bekenntnis zur sozialen Dimension verstehen.
Die Beteiligung von Studenten und Lehrkräften an der Gestaltung der weiteren Reformen, an der Qualitätssicherung und Kurrikula-Entwicklung soll zum Merkmal, mehr noch zum »added value« (Mehrwert) der europäischen Hochschullandschaft werden. Viele Ländervertreter etwa aus Albanien oder Lettland haben sich zu diesem »europäischen Standard« bekannt. István Hiller, der ungarische Bildungsminister und Gastgeber der Konferenz, sagte, Bologna sei zu einem Markenzeichen geworden, das Interesse in Kapstadt, Melbourne und Washington wecke. Dominc Orr, der renommierter Bildungsforscher und Leiter der Eurostudent-Studien, erklärte uns: »Der Bologna-Prozess definiert tatsächlich Werte.« Er mache zu seinem Markenzeichen, dass »europäische Hochschulausbildung für soziale Gerechtigkeit steht«; er artikuliere die Anerkennung von Bildung als entscheidender gesellschaftlicher Triebkraft.
Je wichtiger die Wissenschaftsminister im ökonomischen Kontext werden (Innovation, Wissenschaft, Ausbildung hervorragender Arbeitskräfte), desto höher ist auch die Rechenschaft, die die Gesellschaft von ihnen verlangt. Das haben zehn Jahre Reformen und zehn Jahre Studentendemonstrationen gemeinsam zustande gebracht. Das Verdienst des Bologna-Prozesses – und wenn es das einzige wäre, wäre es schon groß – sei in einer schönen Allegorie von Herrn Orr verdeutlicht: Alice hinter den Spiegeln hat ein Buch, dessen Lettern sie nicht lesen kann – erst als sie es vor den Spiegel hält, versteht sie die spiegelverkehrte Schrift. In dieser Weise ermöglicht der Bologna-Prozess den Ländern, den Wissenschaftssystemen, den Hochschulen, den akademischen Gemeinschaften, sich im Spiegel zu betrachten, sich zu verstehen und voneinander zu lernen. Sich verstehen und voneinander lernen – wäre das nicht ein europäisches Markenzeichen, das wir uns wünschen?
Tino Brömme und Karl-Heinz Kloppisch sind Herausgeber des Europäischen Hochschulbulletins ESNA (www.esna.tv).
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