Obamas Jahrhundertprojekt

Dem USA-Präsidenten gelang mit seiner Gesundreform trotz aller Abstriche etwas, was keiner der Vorgänger im Weißen Haus schaffte

  • Reiner Oschmann
  • Lesedauer: 3 Min.
Auch wenn die hoch aufgeladene ideologische Auseinandersetzung um die Gesundheitsreform mit Barak Obamas heute erwarteten Gesetzesunterschrift nicht abebben wird, ändert das nichts am historischen Charakter der Entscheidung. Dem amtierenden USA-Präsidenten gelang, was bisher keiner seiner Vorgänger schaffte.

Die USA waren und sind bis heute das einzige Industrieland ohne medizinische Grundversicherung für die allermeisten ihrer Bürger. Das soll sich mit dem Reformgesetz schrittweise ändern. Es herbeizuführen hatte noch jeder Präsident seit dem Zweiten Weltkrieg versprochen – erfolglos. Bereits der Republikaner Theodore Roosevelt (1901-1909) war eine Reform angegangen, später Franklin D. Roosevelt (1933-1945) von den Demokraten, aber auch Amtsinhaber wie Lyndon B. Johnson, Bill Clinton oder – für Teilelemente – George W. Bush.

Das jetzige Gesetz, das es Versicherungen ungleich schwerer als bisher macht, Klienten wegen Vorerkrankungen abzulehnen bzw. bestehende Verträge genau dann zu brechen, wenn der medizinische Ernstfall eintritt, ist die am weitesten reichende soziale Reform seit 45 Jahren. Damals waren Medicare und Medicaid, die staatlich subventionierten Systeme für Rentner und für Arme, eingeführt worden. Am 31. Juli 1965, fast auf den Tag 30 Jahre nach den Sozialgesetzen der Roosevelt-Präsidentschaft, hatte Präsident Johnson das Medicare und Medicaid Bill in Kraft gesetzt. Medicare ist ein Programm, das Menschen über 65 und Personen unter 65 mit bestimmten Behinderungen Gesundheitsversorgung gewährt. Medic-aid besteht aus Bundes-, bundesstaatlichen und örtlichen Mitteln zur medizinischen Betreuung von sozial besonders Bedürftigen.

Während sich für USA-Bürger, die über ihre Arbeit eine Versicherung haben, mit der Reform ansonsten wenig ändert, steht auch ihnen künftig eine Neuerung offen: Für einen Zusatzbeitrag können Eltern ihre Kinder bis 26 in der Familienkrankenversicherung führen – good news in einer Zeit, in der immer mehr Jugendliche keinen Einstieg ins Arbeitsleben finden.

Zum historischen Wert der Reform 2010 freilich gehört eine Besonderheit, die es weder bei der Verabschiedung der Sozialgesetze 1935 noch von Medicare und Medicaid 1965 gab: Auch gegen diese Vorlagen hatte es im parlamentarischen Verfahren Widerstand der Republikaner gegeben. Doch im Gegensatz zu heute, da kein einziger Republikaner zustimmte, wurden sie seinerzeit schließlich mit klaren Mehrheiten beider großen Parteien angenommen. So bestätigte das Repräsentantenhaus Medicare mit einer Mehrheit von 313 zu 115. Unter den Ja-Stimmen befanden sich 65 Republikaner – fast die halbe Fraktion. Der Senat votierte 68 zu 21, und von den 27 Republikanern stimmten 13 dafür.

Die Sozialgesetze, die im Gefolge der Weltwirtschaftskrise verabschiedet wurden, wiesen noch klarere Mehrheiten auf: 372 zu 77 im Abgeordnetenhaus, mit 77 Republikanern dafür, nur 18 dagegen. Im Senat 77 zu 6; von den 19 Republikanern stimmten 14 dafür. Präsident Roosevelt hatte damals für das Gesundheitswesen viel größeren Ehrgeiz als die jetzt verabschiedete Health Care Reform. Doch nachdem er anfangs eine allgemeine Gesundheitsversorgung zum Bestandteil seines Gesetzpaketes machen wollte, nahm er sie im Licht der parlamentarischen Widerstände ganz aus dem Rennen, ehe er die Vorlage ins Parlament schickte. Der Historiker David Kennedy, Fachmann für die Ära des »New Deal«, zu Roosevelts Sinneswandel: »Er hielt die Gesundheitsvorschläge für politisch so brisant, dass sie das ganze Gesetz hätten versenken können.«

Auch dieser historische Vergleich erinnert daran, dass die nun verabschiedete, in der Sache mehr als überfällige Gesundheitsreform für den ersten schwarzen Präsidenten der Nation »ein Meilenstein oder politischer Selbstmord für seine Partei – oder aber beides« werden kann, wie ein amerikanischer Beobachter zum vorläufigen Ausgang schrieb.

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