Netanjahu verliert auch im eigenen Land
Israels Mehrheit sieht sich von religiöser Minderheit dominiert
Premierminister Benjamin Netanjahu war am Sonntag gerade zu seiner Reise nach Washington aufgebrochen, als über den israelischen Regierungschef ein Sturm der Entrüstung hereinbrach, der seinen Besuch in der USA-Hauptstadt zu einem Höllentrip in jeder Hinsicht machte: Pünktlich zum Abflug ereilte die Öffentlichkeit die Nachricht, die Jerusalemer Stadtverwaltung habe die Genehmigung für ein Bauprojekt im arabischen Osten der Stadt erteilt, das bereits seit Jahren von einer radikal-religiösen Gruppierung mit US-amerikanischem Geld betrieben wird.
Fast gleichzeitig gab das Sekretariat des Kabinetts bekannt, die Regierung habe am Morgen den Bauplan für die neue Notaufnahme des notorisch überbelegten Krankenhauses in Aschkelon verworfen. Das gab der öffentlichen Meinung den Rest: Während der Bauarbeiten an dem Hospital waren Gräber gefunden worden. Gesundheitsminister Ya'akov Litzman, Mitglied der ultra-orthodoxen Vereinigten Torah-Union, hatte daraufhin mit dem Austritt seiner Partei aus der Regierung gedroht, falls das Kabinett die Arbeiten nicht sofort unterbinden sollte. Die Minister folgten Litzmans Verlangen mit großer Mehrheit und ohne lange Diskussion.
Dass große Projekte an kleinen Gruppen scheitern, ist in Israel nichts Ungewöhnliches. Immer wieder werden Bauarbeiten unterbrochen oder gar eingestellt, weil Gräber gefunden werden. In Tel Aviv wurde deshalb in den 90er Jahren sogar eine Straße für viel Geld auf Stelzen gebaut. Meist wird das in der Öffentlichkeit zwar mit Unmut quittiert, aber dennoch in Kauf genommen. Doch dass eine Regierung nicht nur hohe Mehrkosten, sondern auch Menschenleben in Kauf nimmt, um auf die Forderung einer Gruppierung einzugehen, die gerade einmal anderthalb Prozent der Bevölkerung repräsentiert, bringt die nach einer Vielzahl von Skandalen ohnehin erregte öffentliche Meinung zum Kochen.
In Meinungsumfragen – Stand Mittwoch – wünschen sich je nach Umfrageinstitut zwischen zwei Dritteln und drei Vierteln der Wähler eine Regierung ohne Beteiligung religiöser Parteien und ohne die rechtspopulistische Jisrael Beitenu von Außenminister Avigdor Lieberman. Wären am kommenden Dienstag Wahlen, verlören alle an der gegenwärtigen Koalition beteiligten Parteien erheblich an Stimmen. Gewinner wären die zentristische Kadima und die noch gar nicht existierende Partei des Fernsehmoderators Ja'ir Lapid, Sohn des verstorbenen Politikers Tommy Lapid.
»Diese Regierung ist wie ein furchtbarer Albtraum, aus dem man nicht erwacht«, schrieb Lapid am Dienstag in einer Kolumne für die Zeitung »Jedioth Ahronoth«. Sein Vater hatte sich einst als Vorsitzender der Schinui-Partei geweigert, in einer Regierung mit religiösen Parteien zu sitzen. Ja'ir Lapid sieht das weniger dogmatisch, stimmt aber seinem Vater in einem zu: »Es ist dringend erforderlich, dass Staat und Religion in diesem Land deutlich voneinander getrennt werden.« Die konservative Zeitung »Ma'ariv« bescheinigte Lapid senior am gleichen Tag, dessen Wirken werde »in Tagen wie diesen schmerzlich vermisst«.
Was die Dringlichkeit einer klaren Trennung von Staat und Religion betrifft, ist sich Lapid mit vielen Israelis einig. Denn es geht längst nicht mehr nur um ein paar Millionen Schekel, die religiöse Regierungsparteien für ihre Zwecke fordern – es herrscht das Gefühl vor, dass die überwiegend säkulare Mehrheit von einer religiösen Minderheit dominiert wird und dass Israel auf dem »besten Weg sei, zu einem zweiten Iran zu werden«, wie der Armeerundfunk die Lage am Montag kommentierte. Netanjahu habe eine Regierung der nationalen Einheit bilden wollen, als er vor einem Jahr die sozialdemokratische Arbeitspartei mit religiösen Parteien und Jisrael Beitenu zu seinem eigenen konservativen Likud-Block ins Boot holte. Doch heute zeige sich, dass diese Regierung nichts weiter als das ausführende Organ für die Entscheidungen von Minderheiten sei.
In der Tat: Initiativen von Arbeitspartei und Likud scheitern so gut wie immer am Widerstand der Rechten und der Religiösen, die die Macht haben, die Regierung zusammenbrechen zu lassen, und die deshalb auch so gut wie alles bekommen, was sie fordern. Zu groß war bisher die Angst bei Sozialdemokraten und Likud davor, die Wähler jetzt zurück an die Urnen zu rufen. Man hoffte darauf, mit der Zeit in den Umfragen hinzugewinnen zu können.
Eine Hoffnung, die spätestens seit vergangenem Sonntag unbegründet ist: Die Arbeitspartei denkt laut über den Gang in die Opposition nach, und auch im Likud-Block brodelt es. Benjamin Netanjahu reagierte darauf, wie er darauf immer reagiert: Er stoppte den Baustopp für die Notaufnahme, stoppte dann sofort den Stopp des Stopps und gründete einen Arbeitskreis.
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