Die Stadt der sterbenden Jugend
In der mexikanischen Grenzstadt dreht sich die Gewaltspirale rund um den Drogenhandel immer schneller
Das US-amerikanische Konsulat liegt nur einige Häuserblocks entfernt von der Redaktion des »Diario«, dem Arbeitsplatz von Luz Sosa. Dort hat Mexikos Präsident Felipe Calderón vor wenigen Tagen gemeinsam mit dem USA-Botschafter in Mexiko, Carlos Pascual, seinen Kondolenzbesuch gemacht. Eine Mitarbeiterin des Konsulats und ihr Ehemann sowie der Ehemann einer mexikanischen Konsulatsangestellten waren in Ciudad Juárez am 13. März erschossen worden. Ein Mord, der viel Aufsehen erregte, und so nutzte Mexikos Präsident seinen ohnehin geplanten Besuch in Ciudad Juárez, um den Angehörigen der Konsulatsangestellten sein Beileid auszusprechen.
Ein sich wiederholendes Ereignis, denn Mexikos Präsident war erst im Februar in der Grenzstadt im Norden. Damals, um den Angehörigen von 16 Jugendlichen, Opfern des Massakers von Villa de Salvácar am 31. Januar, zu kondolieren.
Calderón ist in Ciudad Juárez unten durch
»Calderón hatte den Tod der Jugendlichen als Folge einer Auseinandersetzung zwischen den Kartellen dargestellt, obwohl es keinerlei Bezug zum organisierten Verbrechen gab«, erklärt Polizeireporterin Luz Sosa. »Seitdem ist der Präsident bei vielen Bewohnern in Ciudad Juárez unten durch.« Er sei in Ciudad Juárez nicht willkommen, sagte ihm bei seinem ersten Besuch eine Mutter ins Gesicht, und beim zweiten Besuch demonstrierten einige Hundert Bewohner der Grenzstadt vor dem Hotel des Präsidenten gegen seine Strategie der systematischen Militarisierung der Stadt
Rund zehntausend Soldaten hat Calderón in der zersiedelten Wüstenstadt, die von breiten Schnellstraßen, Backsteinsiedlungen und Fabrikhallen geprägt ist, stationiert. Ziel war es, den Krieg der Kartelle einzudämmen und den Drogentransfer ins benachbarte El Paso zu unterbinden. Während bei der Bekämpfung des Schmuggels von Kokain und dergleichen nach USA-Angaben immerhin kleine Erfolge zu vermelden sind – nur noch 60 statt zuvor 90 Prozent der in den USA konsumierten Drogen sollen über Mexiko ins Land kommen –, sieht es bei der Sicherheit ernüchternd aus. »Seit der Entsendung des Militärs Ende 2006 ist die Zahl der Morde immer weiter angestiegen. Erst waren es durchschnittlich zwei am Tag, dann fünf, dann sieben – heute gibt es Tage mit deutlich über einem Dutzend Toten«, erklärt Luz Sosa. 17 waren es am 11. März, zwei Tage vor dem Attentat auf die Angestellten des USA-Konsulats. Immer brutaler wird der Alltag in der Stadt, die in der schlimmsten Wirtschaftskrise ihrer Geschichte steckt und wo es nur Perspektiven für wenige gibt.
Unter den Toten, die manchmal mitten am Tag niedergeschossen werden, finden sich mehr und mehr Jugendliche und junge Erwachsene. »Rund 80 Prozent der Opfer sind zwischen 15 und 25 Jahre alt«, weiß die schlanke Polizeireporterin mit dem Pferdeschwanz. Mehr als ein Dutzend Jahre ist sie im Dienst, und in ihrem kleinen Abteil im Großraumbüro der Redaktion stehen Patronenhülsen neben einer Miniatur des Eiffelturms. Die halbhohen Stellwände der Büroecke sind mit Zeitungsausschnitten gepflastert – darunter auch mehrere, die an Choco erinnern. Choco war der Spitzname des ehemaligen Kollegen Armando Rodríguez, der im November 2008 ermordet wurde. Bis heute hat die Polizei keinen Verdächtigen präsentieren können. »Typisch für die Situation in unserer Stadt, denn Straflosigkeit ist längst zum Markenzeichen von Ciudad Juárez und des ganzen Landes geworden«, klagt Luz Sosa.
Tagtäglich kommen neue Delikte hinzu, und wenn die Reporterin in Ciudad Juárez unterwegs ist, um über Massaker, hinterhältige Morde, Vergewaltigungen und andere schwere Straftaten zu berichten, weiß sie nur zu genau, dass kaum einer der Fälle aufgeklärt wird. Jeder Ermittler in Ciudad hat es mit mehreren hundert Fällen zu tun, zwischen 150 und 300 pendeln die Angaben. Ein Grund für die latente Straflosigkeit, doch die hat vor allem strukturelle Ursachen, denn nicht nur in Ciudad Juárez mahlen die Mühlen der Justiz alles andere als effektiv.
Effektiv müssen die Behörden nun aber agieren, denn der Mord an den Konsulatsangestellten hat die USA auf den Plan gerufen. FBI-Ermittler sind jenseits der Grenze im Einsatz, obendrein ist Mexiko laut einem Abkommen verpflichtet, im Falle der Ermordung von USA-Bürgern Täter zu präsentieren. Ein Dilemma für die Regierung Calderón, der ihr Antidrogenkrieg mehr und mehr aus den Händen zu gleiten droht.
Die Gewalt in der Stadt ist allgegenwärtig
Längst ist die Gewalt allgegenwärtig in Juárez. Selbst Kinder von zwei, drei Jahren bekommen in manchen Stadtvierteln schon Tote zu sehen. Eines der letzten Massaker in Ciudad Juárez fand direkt gegenüber einem Kindergarten statt, die Blutlachen waren am nächsten Morgen noch gut zu sehen, als die letzte Leiche abtransportiert wurde. »Mein Sohn hat sich mit seinen Kindern unter den Tisch geworfen, als die Schießerei begann«, erzählt eine Nachbarin, die nachts in der Fabrik am Band stand und Angst hat, ihren Namen preiszugeben. In Juárez geht die Angst um. Besonders groß ist sie bei den Müttern, die um die Zukunft ihrer Kinder fürchten. Manchmal sind die Sicaritos, die Babykiller, erst 13, 14 Jahre alt.
»Es gibt Tausende von Kandidaten, die von den Kartellen rekrutiert werden können, denn Waffen, Geld und schnelle Autos kommen bei den Kids, die oft aus schwierigen Verhältnissen stammen, gut an«, berichtet Leobardo Alvarado, Doktorand der autonomen Universität von Ciudad Juárez. Derzeit forscht er zum Thema »Jugendliche, Risiken und Männlichkeit« und beobachtet unter anderem, wie der Nachwuchs rekrutiert wird. »Viele Kinder sind sich selbst überlassen, denn die meisten Familien in den Arbeitervierteln der Stadt bestehen nicht mehr aus dem Elternpaar. Meist sind es nur die Mütter, die den Nachwuchs versorgen. Doch nach einem Tag am Band in der Fabrik bleibt nicht mehr viel Zeit für die Erziehung. Das ist die typische Situation in Ciudad Juárez«, weiß der 37-jährige Jugendforscher.
Die Schulen können die Lücken kaum schließen und die Angebote für die Jugend sind nahe Null, erklärt Alvarado. Den Mittelpunkt vieler Stadtviertel wie der Colonia Diaz Ordaz bildet ein eingezäuntes Fußballfeld mit ein paar Spielgeräten, einem Basketballfeld und ein paar Graffitis an der Wand – wenn es hoch kommt. »Doch genau dort treiben sich auch die harten Jungs aus dem Viertel rum, um Drogen zu verkaufen, Geschäfte anzubahnen und eben auch den Nachwuchs zu rekrutieren, um sich nicht selbst die Finger schmutzig machen zu müssen«, erklärt Eric.
Der 24-Jährige hat den Absprung geschafft, studiert jetzt an der Uni von Ciudad Juárez und arbeitet als Sozialarbeiter in einem Jugendzentrum. Mehr als eine Handvoll derartiger Einrichtungen gibt es in der 1,5-Millionen-Einwohnerstadt nicht. »Generell wird die Jugend seit jeher sich selbst überlassen«, kritisiert der angehende Sozialpädagoge, der früher in einer der Gangs der Colonia Diaz Ordaz sein Unwesen getrieben hat – Drogenkonsum inklusive. Vorbei, doch Beispiele wie Eric sind selten in Ciudad Juárez, denn kaum jemand reicht den Kids die Hand. »Das ist schlicht nicht vorgesehen und die wenigen Angebote, die es in Ciudad Juárez für die Jugend gibt, kämpfen immer wieder aufs Neue ums Überleben«, erklärt Leobardo Alvarado.
Etliche der Toten sind jünger als 18 Jahre
Prävention wird bisher klein geschrieben in der Stadt mit der höchsten Mordrate der Welt. Warum, dass musste sich auch Präsident Felipe Calderón nach dem Massaker an den 16 Jugendlichen von Villa de Salvácar fragen lassen. Eine Antwort hatte er nicht, aber immerhin bewilligte er das Geld für vier neue Schulen. Ein Schritt in die richtige Richtung, aber alles andere als ein echtes Programm, kritisiert auch Polizeireporterin Luz Sosa. Sie ist heute wieder mit Fotograf José Luis Soria auf Tour. Unter den Toten sind wieder etliche unter 18 Jahren – bitterer Alltag in Ciudad Juárez.
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