Der Wahrheit ein Stück näher

Andrzej Wajdas Film im russischen Fernsehen

  • Irina Wolkowa, Moskau
  • Lesedauer: 3 Min.
Wer am vergangenen Freitagabend auf dem Kulturkanal des russischen Fernsehens landete, war schockiert. Dort lief ein Film, der zuvor in Russland nur bei zwei geschlossenen Veranstaltungen gezeigt worden war: »Das Massaker von Katyn«, gedreht 2007 von Polens Starregisseur Andrzej Wajda.

Der Ausstrahlung des Films folgte eine Diskussion, in der durchaus kritische Töne zu hören waren – zu den Vorgängen selbst wie auch zum Umgang mit ihnen. Beides belastet die russisch-polnischen Beziehungen mindestens genauso wie Polens NATO-Mitgliedschaft, Warschaus Bereitschaft zur Stationierung von Teilen der US-amerikanischen Raketenabwehr im eigenen Land oder Russlands neuer Nationalfeiertag, der 4. November. An eben jenem Tag vor über 300 Jahren soll die Moskauer Bürgerschaft die polnischen Okkupanten aus dem Kreml gejagt haben.

Katyn und Chatyn

Polnische Medien lobten die Ausstrahlung des Katyn-Films daher als ersten Schritt in die richtige Richtung. Regisseur Wajda sprach von »Versuchen der Annäherung an die Wahrheit«. Und Michail Zurawski, früher polnischer Generalkonsul in Russland, sprach die Hoffnung aus, dass Wladimir Putin am Mittwoch jene Worte findet, die sein Land bisher vergeblich erwartete. Worte der Reue, denen eine objektive Aufarbeitung dieses dunklen Kapitels folgen müsse. Denn Katyn, ein Dorf 30 Kilometer westlich von Smolensk, ist die Spitze eines Eisbergs. Massenexekutionen polnischer Militärs gab es auch im angrenzenden Belorussland und in der Ukraine. Ein Verstoß gegen das Völkerrecht, der nicht verjährt. So sah das schon Roman Rudenko, Generalstaatsanwalt der UdSSR und deren Chefankläger im Nürnberger Kriegsverbrecherprozess. Er lastete die Massaker allerdings Hitlerdeutschland an. Selbst Teile der westlichen Historikerzunft glaubten an eine Zwecklüge der Wehrmacht, die die Nachricht von der Entdeckung der Massengräber verbreitet hatte. Dazu kam das Massaker der SS in einem belarussischen Dorf mit dem fast gleichlautenden Namen Chatyn, dessen Bewohner wegen Unterstützung der Partisanen 1943 lebendig verbrannt wurden.

Endlose Namenslisten

Erst 1990 – in der Götterdämmerung der Perestroika – stellte Michail Gorbatschow klar, dass die Sowjetunion für den Massenmord in Katyn verantwortlich war. Unter den Archivdokumenten, die Warschau daraufhin übergeben wurden, befand sich eine Liste mit den Namen von 14 589 hingerichteten Polen: Offizieren, Intellektuellen, Priestern. Ebenso ein Protokoll mit den Ergebnissen der namentlichen Abstimmung im Politbüro. Neben Stalin hatten auch Verteidigungsminister Kliment Woroschilow, Außenminister Wjatscheslaw Molotow und Anastas Mikojan, damals Volkskommissar für Versorgung, die Hinrichtung befürwortet.

Die Ukraine zog 1994 mit einer Liste der dort hingerichteten polnischen Gefangenen, insgesamt 3435, nach. Der belarussische Teil der Liste dagegen ist bisher nicht aufgetaucht. Präsident Alexander Lukaschenko begründet dies mit der Vernichtung der Archive durch die deutschen Besatzer im Krieg.

Ermittlungen zu Katyn, die Russland zunächst sehr energisch führte, gerieten schon 1994 ins Stocken. Ehemalige Militärstaatsanwälte und Bürgerrechtler sprechen von Mangel an politischem Willen. Der Fall müsse neu aufgerollt werden. Noch mehr als das polnische brauche das russische Volk eine objektive Aufarbeitung der Massaker.

Richtigstellung
Im Beitrag »Das Kriegsverbrechen von Katyn« (ND 3./4. April 2010, S. 22) wurde der sowjetische Einmarsch in Polen versehentlich auf den 17. August 1939 datiert. Richtig ist, wie auch Leser bemerkten, der 17. September. Wir bitten den Fehler zu entschuldigen. d.Red.

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